Bericht des Amtmanns a.D., Teil 2


Bericht des Amtmanns a.D., Teil 2

 

Nun schaltete sich endlich Fräulein Zinnober ein und bewirkte dadurch, dass Frau S. zusammen mit Gustav zur Bürgermeisterei geladen wurde. Gustav wurde wegen des Gelddiebstahls eindringlich ermahnt, der Frau aber wurde die Misshandlung des Kindes durch Schlagen und Hunger vorgehalten und ihr eine Verwarnung erteilt. Seitdem sah sie wohl davon ab, den Jungen zu schlagen, quälte ihn aber auf andere Art. So musste Gustav bei den Mahlzeiten auf der Treppe zum ersten Stock sitzen – eine vollkommen sinnlose Weisung, die lediglich von der Bosheit der Frau bestimmt war. Wenn Gustav wegen einer leichten Erkrankung zu Hause bleiben musste, wurde er von Frau S. ins Bett gesteckt; sie zog die Vorhänge dicht zu und verbat ihm auch nur die geringste Möglichkeit der Beschäftigung oder eines Zeitvertreibs. Ihr Erfindungsreichtum, um das Kind zu quälen, kannte keine Grenzen. Bei einem kleinen Sommerfest der Schulkinder sollte Herr S. im Auftrag der Schulverwaltung Brezeln liefern. Frau S. gab die Brezeln in der Schule ab mit der Bemerkung (liest von der Unterlage ab): „Es ist eine Brezel weniger, unserer braucht nämlich keine.“ Alle Kinder erhielten also ihre Brezel, nur Gustav musste zusehen. Fräulein Zinnober und Rektor Blum unterrichteten uns über diesen neuerlichen Vorfall, und unser Amtmann sah sich endlich zum Einschreiten berechtigt. Er formulierte eine Anordnung zur vorläufigen Fürsorgeerziehung, der vom Amtsgericht sofort stattgegeben wurde. In der Begründung erwähnte er auch Gustavs Vater, der den Jungen zwar nicht selbst misshandelte, aber völlig unter dem Einfluss seiner zweiten Frau stand und keine Energie besaß, ihren Ungerechtigkeiten entgegenzutreten. Durch den Beschluss des Amtsgerichtes auf vorläufige Fürsorgeerziehung änderte sich nichts an der familiären Situation. So musste die vorläufige Fürsorgeerziehung wenige Monate später in eine endgültige umgewandelt werden… Aber ja, auch das ist richtig: Die Fürsorgeerziehung genoss damals schon lange nicht mehr den besten Ruf; ich nehme an, Sie kennen Georg K. Glasers kleinen autobiografischen Roman „Schluckebier“ von 1932, wo der Autor die miserable Situation in den Erziehungsheimen geschildert hat. Durch die NS-Ideologie erschwerten sich die Verhältnisse für die Zöglinge noch zusätzlich. Ich hätte Gustav gerne im Heim besucht und gesprochen, aber es stand mir nicht zu. Meine Ausbildung nahm mich in Anspruch, der Wunsch nach beruflicher Etablierung bestimmte bald mein Denken und Trachten.

Auf der Ebene, auf der ich mein Praktikum leistete und beruflich tätig wurde: der Ebene der Antragsstellung auf vorläufige oder endgültige Fürsorgeerziehung, kam die NS-Ideologie noch nicht zum Tragen, wenn man nicht die hin und wieder anzutreffende Formulierung, der Zögling möge zu einem nützlichen Mitglied der Volksgemeinschaft werden, dazu zählen will. Der Grund für diese „Ideologie-Ferne“ oder sagen wir besser: Ideologie-Verschonung war ganz einfach: Die Verhältnisse, die meine Kollegen und ich in den Anträgen schilderten, widersprachen dem Propagandabild deutschen Lebens nach dem 30. Januar 1933. Auf diese Weise konnten meine Kollegen und ich sich den Luxus der Sachlichkeit leisten inmitten der Diktatur. Ich weiß nicht, ob Sie ermessen können, was das für einen blutjungen Praktikanten, der aus einem sozialdemokratischen Elternhaus stammte, bedeutete. Ich sah eine Möglichkeit beruflicher Etablierung, ohne mich korrumpieren lassen zu müssen. Dass die Korrumpierung trotzdem stattfand, einfach nur dadurch, dass ich meinen Mund hielt und wegschaute von allem Ekelhaften, was sich mir im Deutschland jener Jahre darbot, ist aber ebenso wahr.

Kommen wir zurück zu Gustav S.! Ich sagte eingangs, dass er „die Kurve gekriegt“ habe und ich mich seiner deshalb gern erinnere. Als Sie mich um dieses Gespräch baten und mir auch den Namen Gustav S.s vorlegten, wusste ich über seinen weiteren Lebensweg schon Bescheid. Das kam daher, dass ich in den Sechzigern den Plan eines Vermessungstechnikers für ein neues Kreisamt in B. in Händen hielt, der unterzeichnet war mit Gustav S. Ich hatte seinen Namen über fast drei Jahrzehnte nicht vergessen und vermutete sofort, dass „er“ es sein könne. Meine Nachforschungen bestätigten meine Vermutung, als ich das Geburtsdatum der Meldebehörde mit unserer alten Akte verglich. Wissen Sie, welches Gefühl mich überkam, als ich Gewissheit besaß über die Identität Gustav S.s? Ich musste mich setzen, so glücklich war ich! Seine Begabung und sein Fleiß mussten weiterhin Hand in Hand gegangen sein; sie hatten sich behauptet gegen Frau S. und Herrn S. und auch gegen die Übelstände der Fürsorgeerziehung, denen er gewiss ausgesetzt gewesen war. Und noch etwas: Wir waren in B. fast Nachbarn, er wohnte Kirchstraße 14, ich wohnte Kirchstraße 18. Natürlich machte ich mich ihm niemals bemerkbar. Nach seiner Pensionierung verließ er seine Geburtsstadt und zog nach P. an der Costa Brava. Dort ist er Anfang des Jahres 2010 verstorben.

 

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