Besuch des Bischofs, Teil 1


Besuch des Bischofs

 

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Gardinen an den Fenstern, Decken und Topfpflanzen auf den Tischreihen nebst gerahmten Portraits des Papstes, des Bischofs von M. sowie früherer Rektoren an der Wand. Der Sinn für Details und – vor allem! – religiöse Tradition macht den Unterschied zu meiner Zeit in den Siebzigern. Wer beobachten kann und die Geschichte des Hauses auch nur einigermaßen kennt, versteht, was die Einrichtung des Speisesaals zu sagen hat: Wir wissen, wer wir sind, wo wir herkommen und wo wir hingehen! Dieses Wissen leben wir gemeinsam, deshalb sitzen wir an drei langen Tischreihen beisammen (der „Herrentisch“ des Rektors und Subrektors steht quer zu den drei Schülertischreihen) und nicht an vielen runden (und deckenlosen) Tischen (in einem gardinen- und blumenlosen Speisesaal) schon etwas separiert, wie du in deiner Zeit! (Hat mich jemand angesprochen?) Aber es stimmt! Die Separierung in immer kleinere Gruppen war ein allmählich sich durchsetzender Grundzug der Pädagogik der Nachkriegszeit. Auch die Portraits der hohen Geistlichkeit und der Rektoren waren zu meiner Zeit verschwunden, nur noch ein Kruzifix erinnerte daran, dass das Konvikt in religiöser Trägerschaft stand… Ich höre etwas! Sie kommen! Plötzlich kriege ich Angst vor meiner eigenen Idee. Wer kommt da, immer vernehmlicher, auf die Tür des Speisesaals zu?

Alle Schüler, Rektoren und Subrektoren aus der ersten, einundfünfzigjährigen Phase des Konvikts? Trotz meiner Beängstigung und Verwirrung rechne ich: Allein circa 500 Schüler müssen das sein! – Die Tür geht auf und – ich sehe es rasch – tatsächlich alle Schüler, Rektoren und Subrektoren der ersten Phase des Konvikts strömen herein! (Steh- und Umlegekragen versammeln sich zu Hunderten; haben wir heute Sonntag?) Zu meiner Zeit lebten circa 90 Schüler und vier Erzieher im Konvikt, dann war der Speisesaal voll, und nun erscheinen 500 Schüler und mindestens vierzehn Erzieher (mit den Lehrkräften der dem Konvikt seit Oktober 1924 angeschlossenen Privatschule sind es sogar noch mehr!). Aber ich bin nicht mehr nur im Speisesaal des Konvikts zu dieser oder jener Zeit! Vieles ist möglich, mehr jedenfalls, als ich es mir in meinem gebückt gewordenen Gemüt vorstellen kann! Jeder findet einen Platz, ernst und gesittet, Sextaner wie Oberprimaner, auch ich finde mich an einem Stuhl in der ersten Tischreihe wieder zwischen den ältesten Schülern, den Primanern. Metallene Schüsseln mit dampfenden Suppen stehen plötzlich zwischen den Tellern. Einer der Rektoren schaut still prüfend in den Saal – sofortiges Stillschweigen. Das Tischgebet erfolgt, alle vollführen zweimal das Kreuzzeichen und sprechen zuletzt laut das Amen mit. Stühlerücken, Gespräche und „Suppenfassen“. Mein Sitznachbar reicht mir die Kelle, ich bedanke mich und will ihn ansprechen, da erhebt sich einer der sieben Rektoren und schlägt das Tischglöckchen zum Zeichen des Stillschweigens. Er wendet sich ehrerbietig gegen seine Kollegen und sagt:

„Hochwürdige Herren Rektoren, hochwürdige Herren Subrektoren, liebe Zöglinge! Zum heutigen Tag hat die Küche ein fleischloses Festessen bereitet: Suppe, Weckschnitten, Eier mit Gemüse, Nachtisch und Wein. (Applaus durch Tischklopfen) Dieses hochfeudale Festessen wird uns noch schmackhafter gemacht durch berückende Töne, die ein kleines Orchester auf dem Klavier und den Violinen hervorzaubern wird. Ans Klavier bitte ich Anselm K.! (Ein Schüler steht auf, geht zum Klavier und erhält dabei Applaus.) An die Violinen bitte ich Franz Sch., Thomas I. und Wilhelm H.! (Drei Schüler nach vorn zu den Violinen; Applaus.) Außerdem gebe ich bekannt, dass wir heute einen Gast-Zögling aus der Zukunft des Konvikts bei uns haben. Er möge bitte einmal aufstehen! (Ich stehe auf und werde mit Applaus begrüßt.) Sein Name wird verschwiegen, aber er wird bei der Suppe an der ersten, bei den Weckschnitten und Eiern mit Gemüse an der zweiten, und beim Nachtisch und Wein an der dritten Tischreihe sitzen. Unterhaltungen mit unserem Gast sind möglich, aber die Zukunft des Konvikts oder unseres Vaterlandes darf nicht angesprochen werden. Dies ist der ausdrückliche Wunsch unserer hochwürdigsten Behörde in M.!“ (Auf einen Blick des Rektors setze ich mich wieder.)

Fortsetzung folgt

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