Das andere Gesicht, Teil 1


Das andere Gesicht

 

Ó Brigitta Dewald-Koch

 

Adele ist beunruhigt. Etwas Unangenehmes hat sie geweckt, etwas, für das sie keine Worte findet. Aus einem schönen Traum hat dieses Etwas sie gerissen, und obwohl es um sie herum dunkel ist, hat sie sofort gewusst, dass etwas nicht stimmt. Sie hat es gerochen. Und jetzt liegt sie hier, in diesem Bett, von dem sie nicht einmal weiß, wem es gehört und wie sie da hinein gekommen ist.

Im Leben gibt es für fast alles eine Erklärung, sagt die Erfahrung zu Adele. Das beruhigt sie ein wenig. Sie streckt sich, angenehm ist ihr das nicht. Sie liegt da und wartet und denkt: allmählich könnte jemand kommen und ihr erklären, warum man sie derart unangenehmen Umständen aussetzt.

Wem soll das nützen?

Mir bestimmt nicht, denkt Adele.

Übers Warten wird es hell im Zimmer und vor dem Fenster. Die Schatten vergehen und der Wind weht eine leichte Brise herein und den Gesang einer Amsel.

Adele mag Amseln. Als Kind hat sie eine flügellahme Amsel zu Hause gehabt, ein ängstliches Tier in einem Schuhkarton, das sich kaum auf seinen Füßen halten konnte, lieber hockte es wie tot in einer Ecke, wenn es sein musste den ganzen Tag.. Wie hatte die Amsel in ihr Zuhause gefunden? Sie weiß es nicht mehr. Nun, wegen einer Amsel derart viel Aufhebens machen, ist die Sache auch wieder nicht wert, denkt sie. Aber sie weiß noch, eines Tages war die Kiste leer. Ein paar verschmähte Körner, eine graue, zerrupfte Feder, sonst nichts.

Unerklärlich.

Wie dieses zerwühlte Bett,

dieser weiße Himmel über herbstlichen Bäumen,

dieses Staunen, dass sie kaum erträgt, weil sie nicht weiß, was danach kommt.

Ein zaghafter Sonnenstrahl, noch taubestäubt, berührt ihre verwirrten Augen, wärmt ihre blassen Wangen und nimmt den ängstlichen Zug von ihrem Mund.

Fürs Erste ist die Furcht besiegt.

Adele rollt sich zusammen wie eine Katze. Mit zusammen gekniffenen Augen nimmt sie den Raum, der im ersten Morgenlicht klare Konturen gewinnt,, genauer in Augenschein.

All diese fremden Sachen, die neu aussehen, aber ohne Leben sind, wem sie wohl gehören? Hat hier jemand etwa einen Umzug vor, und was hat sie damit zu schaffen?

Fragt sich Adele.

Ein Gepolter lässt sie die Luft anhalten. Schützend legt sie ihre Hände über ihre mageren Brüste. Der Lärm geht vorüber. Adele traut sich weiter zu atmen.

Sie trommelt mit ihren Füßen gegen die Bettkante, die Kraft, die sie in ihren Füßen spürt, gibt ihr Sicherheit. Auf ihre Füße hat sie sich noch immer verlassen können.

Da, ein heller Streifen, ein scharfer Zacken auf dem Boden, soll das etwa ein Tänzer sein?  Je länger sie hinsieht, umso klarer erkennt sie es: er bittet sie zu einem Tänzchen.

Adele freut sich über diese unverhoffte Einladung. Mit kindlicher Neugierde steigt sie aus dem Bett und tritt ins Licht. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, winkelt ihr rechtes Bein an, dreht gleich drei Pirouetten nacheinander. Wäre doch gelacht, wenn sie das nicht mehr hinbekäme. Eine Melodie liegt ihr auf den Lippen, aber sie singt nicht.

Nicht in diesem Raum.

Das ist kein Ort für Melodien. Das ist ein Ort für Umzüge.

Wo sie auch hinschaut, sieht sie diese weißen Zettel. An einen dieser heftgroßen, weißen Papierstücke tritt sie näher heran: „Sp..ie..ge…l“  buchstabiert Adele.

„Ah“, sagt sie. „Ist hier wohl jemand ein bisschen doof.“

Ihr Blick fällt auf ein Foto, das an der Wand hängt, auch hier ein Zettel. Wand steht da geschrieben, und Adele sagt: „Falsch. Das ist eine Frau, keine Wand.“

Vorsichtig nähert sich Adele dem Bildnis einer dunkelhaarigen, zierlichen Frau. „Scheint mir noch nicht trocken hinter den Ohren zu sein, das junge Ding“, sagt sie zu sich.

Und.  „Haben Sie die Unordnung hier gemacht?“

Bestimmt hat sie das, denkt Adele.

Und weil sie aus einem Land kommt, in dem ein Spiegel nicht Spiegel heißt, sondern etwas anderes, und sie jetzt lernen muss, dass in dem Land, in dem sie nun lebt, ein Spiegel auch Spiegel heißt, hat sie sich das aufgeschrieben.  „Kluges Ding.“

Adele massiert sich die Schläfen. Sie flüstert: „Mon miroir, mon ami.“

Adele liebt auch Spiegel. Man sieht ihr an, dass sie Spiegel liebt. Weich, zärtlich, ist ihr Gesicht geworden, als wäre sie frisch verliebt. Behutsam gleiten ihre Fingerspitzen über die tadellos blanke Spiegelfläche, wieder sagt sie: „Mon miroir, mon ami“, plötzlich aber weicht sie erschrocken zurück.

Im Spiegel ist ein fremdes Gesicht. „Wer sind Sie?“, fragt sie.

Vorsichtig nähert sich Adele erneut dem Spiegel. Das andere Gesicht, sieht sie, ist noch immer da. Adele spitzt ihre Lippen. Sie sagt: „Ich würde mich niemandem derart ungepflegt zeigen. Und dieser Fetzen da, auf Ihrem Kopf. Was, bitteschön, hat der zu bedeuten?“

Das sitzt. Alle Freundlichkeit verschwindet aus dem anderen Gesicht. Adele setzt noch eins drauf. „Dass Sie mir nur Ihr Gesicht zeigen, nicht mehr, spricht ja auch nicht gerade für Sie.“

Der Mund des fremden Gesichts bewegt sich, sieht Adele, aber nichts von dem, was er sagt, kann sie verstehen. „Das ist aber jetzt nicht fair“, sagt sie.

„Ihr Hut ist auch nicht gerade die Wucht“, sagt sie auch. „Völlig verknittert, und wer trägt heutzutage noch rosa? Zu Hause habe ich mehrere Hüte, die ganze Palette an Modellen und Farben. Ich könnte sie zeigen, alle. Vorausgesetzt, ich wollte es.“

Adele legt in ihre Stimme so viel Überlegenheit wie ihr das an diesem undurchsichtigen Ort möglich ist. „Papa hat mir Hüte geschenkt. Papa brachte mir oft Geschenke mit, alles Mögliche. Er liebte mich, mehr noch als Mama, sie war sogar ziemlich oft deswegen beleidigt gewesen. Aber das Beleidigtsein hat ihr nicht viel genützt…“

Adele stockt.

„Was geht Sie überhaupt meine Mama an oder mein Papa… Glauben Sie etwa, Sie könnten mich aushorchen? Ich werde jetzt nach Hause gehen, mir einen meiner Hüte aufsetzen und die Straße entlang spazieren. Bis zum See hinunter. Das ist ein sehr schöner Weg.“

Adele wendet sich vom Spiegel ab. Sie wirbelt durchs Zimmer, dreht ein paar Pirouetten, tastet sich dann von Zettel zu Zettel, bis sie den findet, auf dem das Wort Tür steht. Als sie die Klinke herunterdrückt, hat sie den Eindruck, dass da jemand von der anderen Seite nachhilft.

„Ist da wer?“

Adele erwartet, dass sich da einer hinter der Tür verborgen hält, einer, der es auf sie abgesehen hat, einer mit unanständigen Absichten, einer, der es nicht einmal für nötig hält, ihr zu antworten.

„Zeige er sich, wenn er kein Dieb ist“, ruft sie in den Flur hinaus.

Fortsetzung folgt.

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