Der Rabe


Der Rabe

23.10.2016

 

Mit weitausgebreiteten Schwingen segelt der alte Rabe aus stahlblauem Azur heran, dreht eine Runde um die imaginären Wipfel seiner Fichten, um sich sodann im kleineren Walnußbaum niederzulassen. Seit Wochen geht das so. Noch immer ist es sein Revier, das er argwöhnisch kontrolliert und gegen mögliche Feinde verteidigt. Doch jetzt…?

Seit Generationen hatte ein Rabenpaar seinen Horst in den uralten Fichten und Tannen in einem Nachbargarten. Drei oder vier Bäume waren es, die von weitem wie ein einziger riesiger Baum mit verschiedenen Wipfeln erschienen. Kirchturmhoch waren sie und vielleicht 90 Jahre oder älter. Von schönem Wuchs, majestätisch, breitausladend und, anders als die kränkelnden Bäumchen in der Nähe, in tiefstem Grün erstrahlend. Die sich nach oben biegenden Äste voller „Tannenzapfen“ — zuletzt müssen es wohl etliche Zentner an Fruchtständen gewesen sein. Von unserem Küchenfenster im zweiten Stock konnten wir die Raben über einen Zeitraum von etwa fünfzehn Jahren beobachten. Bisweilen huschten Eichhörnchen durchs Geäst oder Vögel aller Art gaben sich dort ein Stelldichein. Der alte Rabe ignorierte sie alle: Die gurrenden Tauben des Frühjahrs, die rätschenden Eichelhäher des Spätsommers, die krächzend-kreischenden Grünspechte des Herbstes, und auch das heisere Schreien der Kranichzüge im Spätherbst interessierten den Alten nicht. Souverän ruhte er in sich selbst. Einzig wenn Elstern oder Greifvögel sich neugierig oder auch unbedarft seinem Horst näherten, dann „hasste“ er auf sie, d.h. er stieg sodann sofort auf und attackierte die Artgenossen so lange und so heftig, bis diese eilends die Flucht ergriffen. Dabei konnten wir mitunter spektakuläre Luftkämpfe beobachten, etwa wenn der Alte einen weitaus größeren Bussard oder Milan vehement angriff, oder aber einem pfeilschnellen Falke, der sich unvorsichtigerweise seinem Horst genähert hatte, hinterher jagte. Kam dem Alten sogar die Partnerin zu Hilfe, wurde es für die Anderen gefährlich „eng“. Dann hagelten die Angriffe aus verschiedenen Richtungen, so dass die Greife sich ihrer kaum zu erwehren wussten. War diese „Wilde Hatz'“ vorüber, dann segelten die Alten voller Genugtuung zurück zu ihrem Heimatbaum und ließen sich auf seinen Wipfel-Spitzen nieder. So gingen die Jahre dahin, alle Abläufe hatten ihr Gleichmaß, während die Welt drumherum sich rasant veränderte.

Meist schon im November oder Dezember setzte sich der Alte in seinen „Ausguck“, d.h. auf den obersten Trieb des Wipfels, und besetzte für alle anderen Vögel weithin sichtbar sein Revier: Mein Baum, mein Lebens-Bezirk; Anflug bzw. Durchflug strengstens verboten! Seine Lebens-Partnerin kam gewöhnlich etwas später im Jahr hinzu und dann brachte er die obligatorischen Geschenke für den Nestbau herbei. Oft waren es kleinere Zweige oder Reisig, die er aus nahen Bäumen heranschleppte und seiner Partnerin feilbot. Diese verbaute sie sodann im Horst; besserte diesen aus oder stockte ihn auch auf. Etwa im April oder Mai begann für das Weibchen die Brutsaison, die ca. drei Wochen dauerte. Danach versorgte ausschließlich sie die Nesthocker noch einige Tage, bevor sie dann gemeinsam mit ihrem Männchen die 4-6 Jungvögel bis zum Flüggewerden heranfütterten. Nach weiteren vier bis fünf Wochen hatten schließlich alle Jungvögel das Nest verlassen, und die Altvögel gingen wieder ihrem eigenen Leben nach. Ein Jahres-Lebens-Zyklus schloss sich.

Gerade in diesem Jahr konnten wir beobachten, wie wohl das „Nesthäkchen“ den elterlichen Horst zögerlich verließ: zunächst hüpfte es auf einen aus dem Baum etwas weiter hervorstehenden Ast, kletterte unbeholfen bis an dessen Spitze und fing dort an, mit seinen Flügeln zu schlagen. Allein, loszufliegen traute es sich noch nicht. Die Eltern schienen ihm Mut machen zu wollen und flogen bald näher bald weiter um ihren Zögling herum. Dieser wollte ihnen auch nur allzu gerne folgen — allein, seine Füße krallten sich zu sehr an den sicheren Halt. Da mochten die Flügel noch so sehr flattern und beherzt schlagen. Der Kleine saß wie festgeschweißt auf seinem Ast!

Doch mit einem Mal geschah das Wunder: beinahe unbeabsichtigt hob der Jungvogel von seinem Standort ab, flatterte eine ungelenke Kurve um die Fichten herum und landete beherzt im alten Walnußbaum. Puh, geschafft! War doch ganz einfach!!, schien er selbstbewusst sagen zu wollen. Also gleich wieder zurück zum Ausgangspunkt… Nur: Aufsteigen ist weitaus schwieriger denn einfaches Absegeln. Also flog er eine komplette Runde um die Fichten, verlor dabei seinen „Landeast“ aus den Augen und krachte irgendwo ins Geäst des heimatlichen Baumbestandes. Das Herz mochte ihm bis zum Hals hinauf schlagen. Gerade nochmals gut gegangen…! Doch ein Anfang war gemacht. Dann begleiteten die Alten seine Flugversuche — immer hin und her zwischen den Fichten und dem Walnußbaum. Und gegen Ende des Tages hatte der „Grünschnabel“ genug Flug-Erfahrung gesammelt, um allein in die Weite des Himmels fliegen zu können. Kurze Zeit später sahen wir ihn nicht mehr. Der Horst war verwaist.

Die Altvögel schienen ihre eigene Freiheit zu genießen und flogen nun wieder paarweise ihr Revier ab. Zum Teil schienen sie in ausgelassener Freude ihre akrobatischen Flugkünste und Kunststückchen allen anderen Vögeln zeigen zu wollen. Sie genossen die herrliche Wärme des Spätsommers, dieses mildere, fast honiggelbe Licht der tieferstehenden Sonne, das die Farben des Laubes noch einmal aufstrahlen ließ.

Doch dann, eines frühen Morgens gegen Ende September, hörte ich die Motorsägen dröhnen. Ich schaute aus unserem Küchenfenster, woher das Lärmen wohl kommen möge, sah jedoch nichts. So ging es zwei volle Tage, bis ich endlich den Arbeiter in den Fichten sehen konnte. Erst dann hatte er die Höhe der Nachbardächer erreicht und sich seinen Aufstieg entlang des Stammes freigeschnitten. Er muss einen „Wald von Ästen“ abgeholzt haben, bis er für mich endlich sichtbar wurde. Da wusste ich, dass — nachdem schon die alten Nadelbäume in den anderen Gärten und Grundstücken gefällt worden waren — nun auch die Letzten ihrer Art, die mächtigsten und schönsten, der Kettensäge zum Opfer fallen würden. Der Mann ging indes äußerst umsichtig und professionell seinem Hand-Werk nach: zunächst die kleinen Äste mit der Hand heraussägen und sich einen Weg am Stamm entlang in den Wipfel bahnend; sodann die stärkeren Äste mit der Kettensäge bis auf etwa 20 cm vom Stamm entfernt absägen. Die Aststummel dienten ihm als Kletterhilfe beim Aufstieg in den Wipfel. Dann wurde der eigentliche Wipfel mittels Seilen und Gurten „gesichert“ und abgesägt, so dass er in die Halterung des Fixseiles stürzte. Danach wurden die eigenen Halte- und Sitzgurte des Arbeiters in Abständen von etwa einem Meter Schritt für Schritt gesichert und die Stammstücke in entsprechender Länge heruntergeschnitten. Das ganze dauerte etwa einen Arbeitstag. Danach war von dem mächtigen Baum nichts mehr zu sehen… Ein Leben, älter als ein Menschenalter, binnen weniger Stunden professionell zerkleinert, zerstückelt, vernichtet…—

Klug jedoch, wie ein Rabe zu sein pflegt — schließlich gehört sein größerer Verwandte, der Kolkrabe, in vielen Kulturen unserer Welt zu den wichtigsten Tieren der Schöpfungs-Mythen (vgl. kanadische Haida-Kultur) — verließ der Alte gerade noch rechtzeitig seinen Horst, krächzte dem Arbeiter seinen ganzen Ärger und Groll noch entgegen, um sodann in der Bläue des Himmels zu entschwinden.

Baum und Horst, aus dem Generationen von Raben entstammten, sind nun verloren. Nur das Loch im Boden, das die Stubbenfräse hinterließ, kündet noch von jenem Ort, der einstmals dem Raben Heimat war. Aber noch immer, wie aus den endlosen Weiten des stahlblauen Azurs, segelt der alte Rabe heran, umkreist die imaginären Wipfel seines Stammbaumes, kontrolliert mit argwöhnischem Blick sein Revier und erhebt mit kehligem Krächzen den immerwährenden Anspruch auf seine Heimat…—

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