Die Sonne hat die Breite des menschlichen Fußes, Teil 6


Bernhard Ruppert

Johannes Chwalek

 

Die Sonne hat die Breite des menschlichen Fußes

Rundgänge mit Heraklit, Teil 6

 

IV, Nordseite:

 

GÄRTNER: Wir Heutigen gleiten immer tiefer in die eigene Mechanisierung und Technisierung hinein, wir denken und verstehen „Seele“ zunächst als etwas „Me­chanisches“, etwas „Mechatronisches“, also etwas, was unseren Körper „in Gang bringt“ wie der Motor das Auto. Aber ist Heraklits Begriff identisch damit? Ist dies schon „Seele“?

ICH: Welche Zweifel oder Fragen hast Du?

GÄRTNER: Zum Beispiel, ob die gesuchte und angesprochene Seele etwas Drei-Dimensionales ist, das umgrenzt und begrenzt ist? Oder spürte Heraklit ins­tinktiv, dass sich das von ihm Gesuchte und teilweise auch Erforschte nicht so einfach in Begriffe zwängen lässt, ja dass alles menschliche Begreifen dieser er­fahrbaren Wirklichkeit zu kurz greift, weil der suchende und fragende Geist des Menschen einer Wirklichkeit nachspürt, die er zwar dunkel erfahren kann, sich selbst sogar als Teil hiervon verspürt, die er (der Mensch) jedoch nicht „heben“ kann „ins Lichte der Vernunft“, ohne das Gesuchte zu „komprimieren“.

ICH: Comprimere = zusammendrücken, -pressen; niederdrücken…

GÄRTNER: Ähnlich wie beim „Gottes-Problem“ vermag der Mensch sich zwar Begriffe und Bilder von der „Seele“ als „anima“, als „Wesen“, als „Existenz“ etc. zu machen, aber jedes noch so sorgfältig benutzte Wort begrenzt die Wirklichkeit der Seele, ihr Seele-Sein, auf den bildhaften Inhalt des „Begriffes“ und den jewei­ligen Denk-Horizont des betreffenden Menschen.

ICH: Was grenzenlos ist, wird in Sprache „eingedost“ und „konserviert“.

GÄRTNER(nickt): Freilich, die „Seele“ hält sich als „Dauerkonserve“ im Sagen des Menschen länger frisch; und für die meisten Menschen, die „Vielen“ und die „Allzuvielen“, reicht dieses Formen- und Formel-Wissen ja auch aus, um gut durchs eigene Leben „fahren“ zu können. Aber Heraklit wollte als Philosoph der Wahrheit „auf den Grund gehen“ und nicht irgendeinem menschlichen Denk- oder Mach-Werk aufsitzen… (nach kurzer Pause) Wir bräuchten wahrhaftig das Original-Fragment, um die verschiedenen Übersetzungs-Schichten voneinander abheben zu können. Denn jedes Mal mäandert bei einer Übersetzung auch der Sinn.

ICH: Seien wir uns darüber klar, dass wir vorläufig Heraklit nur durch die mo­derne Brille betrachten können! In diesem Sinne meinst du, dass sich Heraklit bei der Seele womöglich einer „offenen Struktur“ nähert?

GÄRTNER: Richtig, je näher er denkend und forschend an die „Grenzen“ der Seele tritt, desto weiter öffnet sich ihm diese in eine unstrukturierte, aber den­noch geordnete Wirklichkeit hinein. So erforscht er einerseits sich selbst – gnothi seauton – und andererseits durch sich hindurch die Wirklichkeit der Natur.

ICH: Er transzendiert sowohl nach „innen“ als auch nach „außen“.

GÄRTNER(nickt): Je tiefer Heraklit in den Grund aller Dinge vorandringt, desto tiefer öffnet sich dieser Grund in eine unergründliche Wirklichkeit hinein. Das ist wie bei „Hase und Igel“: Das Denken selbst weiß schon vorab, dass es selbst an jeder Denk-Grenze transzendieren kann. Im Zen-Buddhismus wird diese Denk-Bewegung beendet: in der Ruhe, in der Stille, im Schweigen nach dem letzten Gedanken, nach dem letzten Begriff, nach dem letzten Wort, nach der letzten Gestalt, nach dem letzten Bild, nach der letzten Form, nach dem letzten geomet­rischen Muster, nach der letzten Farbe: IST „ES“, die Eine-Wirklichkeit. Diese Deduktion ist eine Reduktion (eine Zurück-Führung) ins Wirkliche. Unser Denken ist hierbei: Die Wolke auf dem Himmel der Wirklichkeit. Unsere Seele ist eben­dieser Himmel. Es ist René Descartes’ „Meditationes“ rückwärts in den Ur-Sprung meditiert… Und „Himmel“ ist schon richtig; denn die menschliche Seele beinhaltet wenigstens noch „Farbe“ – die gesuchte Wirklichkeit jedoch nicht mehr… Auf diese Weise ist sie die vollkommene Leere, in der alles ist.

ICH: Ich bewundere dich, wie die Gedanken aus dir herausrollen und welche Be­züge du herstellen kannst!

GÄRTNER: Danke für die Blumen! Ich betreibe keine Heraklit-Auslegung, dazu fehlen mir die Forschungs-Kenntnisse aus der Sekundärliteratur. Ich äußere le­diglich, was mir in den Sinn kommt, was die Fragmente, die du ausgesucht hast, mir sagen und zusprechen…

 

 

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