Erinnerung an Dieter Steuer


Erinnerung an Dieter Steuer

Er kam gerade vom Friedhof, wo er das Grab seiner vor wenigen Jahren verstorbenen Mutter besucht hatte. Auf abschüssiger, eisglatter Straße geriet sein Wagen ins Rutschen und stieß gegen einen Betonpfeiler (oder war es eine Mauer?). Der Schaden am Auto hielt sich in Grenzen, aber Dieter Steuer, der nicht angeschnallt gewesen sein sollte, war tot; Genickbruch oder Herzversagen – auch darüber erfuhr ich nichts Genaues.
Vor zehn Jahren lernte ich ihn kennen. Er war Mathematik- und Physiklehrer an einem privaten Lehrinstitut in M., wo ich als Student unterrichtete. Steuer schrieb damals schon seit über zwanzig Jahren die Geheimnisse der Algebra und Differentialrechnung für zumeist junge Erwachsene, die sich in abendlichen Lektionen auf die drei klassischen staatlichen Schulabschlüsse vorbereiteten, an die Tafel. Die fetten Jahre der Lehranstalt waren längst vorbei, mittlerweile verlangte die Konkurrenz in der Stadt immer größere Anteile vom Kuchen. Der ohnehin schon cholerische Institutsleiter E. wurde dadurch noch verdrossener und gereizter, was natürlich auch Steuer „abbekam“. Ich erinnere mich, wie er einmal das Büro verließ, aus dem noch die zeternde Stimme des Chefs zu hören war, und mit einer abwinkenden Geste zu sagen schien: Ach, lass mir doch die Ruh!
Beide Männer befanden sich in einer vergleichbaren Situation: Sie hatten nie etwas anderes getan, als im Institut zu arbeiten und waren mittlerweile beide zu alt, um noch etwas Neues zu beginnen. Der Unterschied zwischen beiden bestand darin, dass Steuer sein Mathematik-Studium mit Diplom abgeschlossen, E. dagegen sein Soziologie-Studium abgebrochen hatte. Steuer hätte früher naturgemäß größere berufliche Chancen besessen als E., aber nun war der Studienabbrecher E. der Arbeitgeber und Vorgesetzte des diplomierten Mathematikers, der hoffte, dass das Institut noch die wenigen Jahre bis zu seiner Rente bestehen bleiben würde.
Während meiner eigenen mehrjährigen Lehrtätigkeit am Institut hatte ich mit Steuer wenig zu tun. Lagen unsre Stunden nebeneinander, übergab er mir nach dem Unterricht das Kursbuch und umgekehrt. Oft vergaß er allerdings auf die Uhr zu sehen, so dass ich anklopfen und eintreten musste, um ihn auf den Verzug aufmerksam zu machen. Immer im Februar sprach mich Steuer an mit einer Geburtstagskarte für den „Chef“ in der Hand. Ich unterschrieb, zahlte meinen Obolus und nickte ihm zu. Im März hatte ich die Episode wieder vergessen und wusste oft gar nicht, warum sich E. bei mir bedankte „für das schöne Geschenk“. Jahr für Jahr nahm ich mir vor, im nächsten März daran zu denken und E. persönlich zu gratulieren, aber jedes Mal vergaß ich es wieder. Übrigens kam es mir bald vor, als verstriche die Frist zwischen dem jährlichen Erscheinen Steuers mit der Geburtstagskarte in der Hand immer schneller, als sei mittlerweile nicht ein Jahr, sondern nur ein Dreivierteljahr oder noch weniger vergangen. Zuletzt schaute ich Steuer fast erschrocken an, und er erwiderte mein Empfinden mit aufmerksamer Zurückhaltung.
Wie es eigentlich um ihn bestellt war, wusste ich nicht. Er wohnte weit weg, besaß in M. nur ein Zimmer. Er hatte keine Frau; später erfuhr ich von E., dass seine Familie nach dem Tod seiner Mutter nur noch aus zwei „entfernten“ Cousinen bestanden hatte.
Zum letzten Mal – zwei oder drei Wochen vor seinem Unfall – sah ich ihn von der Straße aus an einem Fenster des Instituts stehen, als ich gerade von der nahegelegenen Bücherei kam. Ich winkte ihm zu und erhielt seinen kameradschaftlichen Gegengruß. Blickte er mir nach mit dem Gedanken, dass ich es richtig gemacht habe? Vor einigen Monaten war ich vom Institut ausgeschieden und hatte eine Stelle als Lehrer an einer staatlichen Schule angenommen. In dieser Zeit hatte ich wohl kaum noch einmal an Steuer gedacht – der mir nun merkwürdig durch den Sinn geht, da er für immer verschwunden ist.

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