Terror der Angst


Terror der Angst

Wenn ich als Reiseleiter auf der Nachtfähre in meiner Kabine liege, Innenkabine natürlich, und das Stampfen und Schaukeln mich hin und her wiegt, dann kommen mir mitunter seltsame Gedanken. Was wäre zum Beispiel, wenn einer der Lastzüge, die unten im Bauch der Fähre verstaut sind, nicht mit frischen Erdbeeren oder Blumen aus dem Gewächshaus beladen ist, sondern mit TNT? Wenn er mitten auf der Nordsee in die Luft fliegt und uns alle in die Tiefe reißt? Oder wenn ein Kämpfer, für welche Sache auch immer, dem internationalen Finanzkapital einen erschütternden Schlag versetzen will – und das Flugzeug, welches mich mit meiner Reisegruppe von der Amalfiküste nach Hause bringen soll, landet nicht zum Umsteigestopp auf der Landebahn in Frankfurt/Main, sondern ein paar Kilometer davon entfernt in den mittleren Etagen der Bürotürme von Deutscher Bank oder Europäischer Zentralbank. Oder unser Bus, aus dem heraus ich gerade noch die Schönheiten Südfrankreichs gepriesen habe, wird von Maskierten angehalten, die Passagiere werden zum Aussteigen gezwungen, und jeder, der nicht fehlerfrei das islamische Glaubensbekenntnis aufsagen kann, wird auf der Stelle enthauptet.

Kann alles passieren. Wenn man der Presse, dem Radio, dem Internet und dem Fernsehen glauben darf, dann passiert so etwas nahezu täglich und wird in Zukunft noch häufiger vorkommen, so häufig, dass es im einzelnen Fall schon gar keine Meldung mehr wert ist.

Wir müssen alle ganz, ganz große Angst haben. Ganz bestimmt.

Die Fußball-EM in Frankreich steht vor der Tür und vorsorglich werden schon die ersten Warnungen vor Terroranschlägen herausgegeben. Alle sind gefährdet, Spieler, Betreuer, Fans. Frankreich ist sowieso gefährdet, wegen seiner kolonialen Vergangenheit, wegen Mali, wegen Libyen und und und. Russland ist gefährdet wegen der Krim und wegen Syrien. Die Ukraine ist gefährdet wegen Putin. Deutschland ist gefährdet, weil Böhmermann den Erdoğan beleidigt hat. Irland ist gefährdet, weil die Hauptexportartikel dieses Landes Alkohol enthalten. Belgien ist gefährdet wegen Molenbeek und weil es eben Belgien ist. Wales ist gefährdet, weil es dort Ortsnamen gibt, die kein Mensch aussprechen kann.

Nur die Holländer sind fein raus, die sind nicht gefährdet, weil sie sich vorsorglich gar nicht erst qualifiziert haben.

Wer trotzdem als Spieler oder Fan zur EM fährt, der tut dies auf eigene Verantwortung. Wir haben ihn gewarnt.

Wenn irgendwo ein Flugzeug unter ungeklärten Umständen abstürzt, dann heißt es neuerdings ganz schnell, dass ein Terroranschlag wahrscheinlicher sei als ein technisches Versagen. Das ist praktisch, denn bei einem technischen Fehler oder dem Versagen des Flugpersonals müsste die Airline viel Geld an die Hinterbliebenen bezahlen.

Und die Jungs vom IS lassen sich da auch nicht lumpen. Wenn irgendwo eine Maschine vom Himmel gefallen ist, dann lesen sie im Internet nach und schicken gleich eine Meldung raus: Das waren wir, ganz bestimmt. Wir sind nämlich ganz, ganz böse und werden Euch alle umbringen, wir können überall zuschlagen und ihr müsst Angst vor uns haben. Und die Politiker der anderen Seite sagen, dass man da mal wieder sehen könne, wie gefährlich der IS ist und dass man Angst haben muss und deshalb noch schärfere Sicherheits- und Einwanderungsgesetze braucht.

Die nicht geplante Kooperation zwischen den Sicherheitsbehörden, den Politikern und dem IS klappt prima – die Menschen haben Angst. Und Menschen, die Angst haben, lassen sich leicht in jede beliebige Richtung führen und stellen keine dummen Fragen. Zum Beispiel die, ob durch die ganzen neuen Gesetze von dem, was es angeblich gegen den Terror zu verteidigen gilt, noch etwas übriggeblieben ist. Stattdessen wird gesagt, man müsse die Ängste der Menschen ernst nehmen. Man kann diese Argumentation auch als Aufforderung sehen: Habt endlich Angst, dann nehmen wir Euch ernst!

Menschen, die Angst vor allem Fremden haben, schotten sich ab. Alles, was von außen kommt, alles fremde, das wird zur lebensgefährlichen Bedrohung. Sie haben Angst davor, dieses Fremde kennenzulernen – und vergeben sich so die einzige Möglichkeit, ihre Ängste als das zu entlarven, was sie sind: lächerlich.

Ich bestreite nicht, dass es Terroranschläge gegeben hat, auch in Europa – selbst wenn es sich hier, was die Opferzahlen angeht, nur um ein Bruchteil dessen handelt, was seit einigen Jahren z. B. im Irak, in Afghanistan, in Zentralafrika oder in Nigeria zu beklagen ist. Und jedes Terroropfer ist eines zu viel, jeder Mord aus einem wie auch immer gearteten höheren Grund, bevorzugt der Religion, bleibt ein feiger Mord, den es zu bestrafen gilt.

Bei den Terroranschlägen in Paris im vergangenen Jahr wurden etwa 150 Menschen getötet. Jedes einzelne dieser Opfer hätte es verdient, noch lange und mit Genuss zu leben. Um jedes dieser Opfer muss getrauert werden. Trotzdem zum Vergleich: Im Jahr 2014 sind in Frankreich knapp 3.400 Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ein einziger Politiker zum Krieg gegen den Autoverkehr aufgerufen hätte.

Das ist zynisch, vielleicht. Und was ist dann das Folgende?

Just als ich in den vergangenen Wochen in Irland unterwegs war, stand der letzte Spieltag der englischen Premier League an. Manchester City sollte daheim gegen Bournemouth spielen, für Manchester ging es immerhin darum, sich für die Europa-League zu qualifizieren. Dementsprechend war das Old Trafford-Stadium ausverkauft – doch dann musste das Spiel abgesagt und das Stadion in kürzester Frist geräumt werden. Ein verdächtiger, herrenloser Koffer war den Sicherheitskräften aufgefallen. Nachdem alle Zuschauer das Stadion verlassen hatten, wurde der Koffer gesprengt, der Inhalt soll, ersten Angaben nach, hochgefährlich gewesen sein.

Im Fernsehen sah ich verängstigte, fassungslose und wütende Menschen, die sich auf einen spannenden Fußballnachmittag gefreut hatten und die nun dastanden mit dem Gefühl, gerade eben noch mit dem Leben davongekommen zu sein.

Wenig später stellte sich heraus, dass der gefährliche Koffer einer privaten britischen Sicherheitsfirma gehörte. Diese hatte kurz zuvor im Stadium eine Übung durchgeführt, in der es um die Abwehr eines Terrorangriffs ging, und anschließend den Koffer einfach vergessen.

Wir brauchen gar keine Terroristen mehr. Wir terrorisieren uns selbst durch unsere Angst vor dem Terror.

Gute Weiterreise.

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