Vom Ungesagten


Vom Ungesagten

20.12.2015

 

Von Martin Heidegger (1889-1976) stammt der Satz: “Die ‚Lehre‘ eines Denkers ist das in seinem Sagen Ungesagte, dem der Mensch ausgesetzt wird, auf daß er dafür sich verschwende.“ (Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, S.5, Francke,19753) Und von Blaise Pascal (1623-1662) stammt die berühmte Einsicht: “Das Herz hat seinen Grund, den der Verstand nicht kennt.“ (Pascal, Pensées, Fragment 89, S. 48, Sammlung Dieterich, o.J.) Obschon nun fast dreihundert Jahre beide Sätze voneinander trennen, und obwohl beider Selbstverständnis nicht unterschiedlicher sein könnte — hier der Denker (nicht: “Philosoph“) und Fundamentalontologe des 20. Jahrhunderts, der versucht, grundlegend dem Sein nachzufragen und ihm entgegenzudenken; dort der Philosoph, Mathematiker, Physiker, und eines der größten Genies seiner Zeit, der als homo religiosus, als zutiefst glaubender Mensch in seiner Fragmenten-Sammlung philosophische Gedanken von zeitloser Brisanz versammelt — obwohl also Ursprung und Ziel beider Forschenden nicht verschiedener sein könnten, so eröffnen sie uns Lesenden doch einen faszinierenden “Raum“: Der Raum des Ungesagten, der, beredt schweigend, in allem schon Gesagten an-wesend ist.

Nehmen wir beide Sätze einmal als Sprung-Brett für unser eigenes Fragen, Denken und Forschen, so stellen wir erstaunt fest, dass beide Sätze gleichsam “Blaupausen“ für jegliches Forschen und Philosophieren sind, ja dass sie darüber hinaus auf jeden Text und jede Formel anwendbar sind. Völlig unabhängig davon, ob es sich hierbei um einen philosophischen, einen lyrisch-poetischen, einen religiös-spirituellen, oder aber rein profanen Text handelt. Desgleichen, ob es sich bei der Formel um eine rein mathematische oder aber physikalische Formel, etc.pp. handelt. Die Wahrheit eines Textes und die “Wahrheit“ einer Formel scheinen stets jen-seits zu liegen: Jen-seits von Buchstabe und Ziffer, Klammer und Bruchstrich, jen-seits von “Begriff“ und “Quotienten“, jen-seits des bisher-Gesagten, jen-seits aller Richtigkeit des Verstandes. Erstaunlich. So finden sich etwa der gr. Philosoph Aristoteles (Lebensdaten) und der dt. Physiker Max Planck (dito) staunend unter ein und demselben Sternenhimmel vereint: Ersterer beschrieb das Gesehene in philosophischen Gedanken (Vom Himmel,), letzterer beschrieb “es“ in mathemathisch-physikalischen Formeln, wohl wissend, dass weder “Wort“ noch “Zahl“ das Ganze erfassen würde. Denn es bleibt ein “Rest“ von Ungesagtem wie auch Unberechnetem “übrig“. Das jedoch war zu allen Zeiten den Fragenden, den Forschenden das “Wesentliche“. Es bleibt in allem Wissen stets auch ein noch-nicht Gewusstes “übrig“, dem das Nach-Fragen, das Hinter-Fragen, das Grenz-Überschreitende des Fragenden, des Forschenden gilt. Denken wir “Wissen“ als einen “Raum“, so eröffnet unser Nachfragen ständig “neue Türen“ zu bisher uns “unbekannten Räumen“. Denken wir Wissen als einen “Horizont“ (Terminus bei Karl Jaspers), so eröffnet unser nachfragendes Forschen mit seinen Antworten “Horizont“ um “Horizont“ — eine unabschließbare, endlose Weite möglichen Geistseins. Karl Jaspers (1883-1969) nannte diese offene Struktur unseres Mensch-Seins einen “offenen Horizont“, in dem wir uns einerseits immer schon bewegen, und den wir an jeder Grenze jen-seitig überschreiten.

Was folgt hieraus für uns Lesende? Völlig unabhängig vom Genre oder Inhalt eines Textes — sei es nun ein platonischer Dialog wie etwa der “Phaidon“, sei es ein Gedicht in anakreotischem Versmaß oder ein japanisches Haiku/Waka; sei es ein theologischer Text aus früheren Zeiten oder aber der heutigen Zeit; seien es spirituelle Texte aus den verschiedensten Kulturkreisen dieser Welt — für alle gilt: ‚Hinter’m Horizont geht’s weiter…‘, d.h. hinter dem gedruckten Wort, dem Geschriebenen, da wo Auge und Verstand gerade nicht hinsehen und nicht “begreifen“ können, dort ist und bleibt ein Raum eröffnet, der jen-seits aller beschriebenen Wege Ungesagtes, Ungeschriebenes für uns geborgen hält. Es bedarf daher der Anstrengung unseres Geistes, d.i. der Geist des jeweils Lesenden, die “Tür“ zu diesem “Raum“ zu finden, sie zu öffnen und in den nächsten Horizont einzutreten. Gelingt uns jedoch dieser “Schritt“, so geschieht Verschiedenes: einerseits wird der “zeitliche Horizont“ getilgt und etwa ein 2.500 Jahre alter platonischer Dialog spricht zeitnah und lebendig zu uns; wir lesen den jeweiligen Text beinahe “authentisch“, d.h. wir lesen Platon mit Platon oder Heidegger mit Heidegger, etc.pp. (d.h. wir stülpen dem gedruckten Wort nicht unseren eigenen Sinn wie einen passenden Handschuh oder wie ein “Passepartout“ über…); andererseits bewahren wir uns die Offenheit, die uns wachsen und reifer werden lässt. Jene unabschließbare Freiheit, die geistiger Blindheit und Fanatismus jeglicher Couleur wehrt.

 

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