Rezension zu „Feldpostbriefe“, Erzählung von Johannes Chwalek


Rüdiger Jung

Rezension zu „Feldpostbriefe“, Erzählung von Johannes Chwalek

In: Skizzen eines Schachspielers. Erzählungen. Stuttgart 2021 (Scholastika Verlag), S. 84–141.

 

In „Feldostbriefe“ ist für mich Zeitgeschichte sehr überzeugend Literatur geworden. „Rücksichtsloses Klopfen an meiner Tür“ (S. 84): Der Leser wird sofort in Ort, Zeit, Konstellation der Erzählung hineinkatapultiert. Eine Zeit, die immer wieder nachdrücklich aufscheint:

  • „das elektrische Licht […] das in den Osterferien im ganzen Haus verlegt worden ist“. (S. 87)
  • „Bei der nächsten Deutschen Leichtathletik-Meisterschaft sollen auch Frauen teilnehmen.“ (S. 93; S. 94 die Überlegungen, ob ein Hirtenwort der Kath. Kirche dagegen noch etwas ausrichten könnte)
  • „Der katholische Pfarrer von B. verfügt über ein Telefongerät. Ich habe zum ersten Mal in ein solches Gerät gesprochen“. (S. 126)
  • „Ja, es gibt sogar Stimmen, die sich für den koedukativen Sportunterricht an Schulen ausspreche – können Sie sich das vorstellen? (S. 127)

Es ist der Rektor des Schülerwohnheims, der für die präziseste historische Verortung sorgt: „Seine Majestät, Wilhelm der Zweite (er sagte immer noch ‚Seine Majestät, Wilhelm der Zweite‘)“ (S. 92). Der damit benannte Geist wirkt bis tief in die kleinsten Facetten des Alltags, – etwa, wenn beim „Schokoladenpudding“ „nachtun“, nicht „vortun“ angesagt ist (S. 110).

„Ich“ und Identifikationsfigur der Erzählung ist diesmal der „Prä“, der gleichsam von Amts wegen am „Herrentisch“ (S. 88) sitzt, obwohl er sich selbst viel näher an den Schülern verortet, aber dabei einräumen muss: „Ich gehöre nicht dazu, aber sie akzeptieren mich (S. 115).

Ihm, der sich selbst als Regionalhistoriker betätigt, werden die titelgebenden „Feldpostbriefe“ zugespielt, dass er etwas daraus macht. Er sieht sich in der Pflicht, der Witwe, der „schönen Frau“ (S. 65) von Werner L. zu antworten, aber eine doppelte Ausweichbewegung ist unverkennbar: Werner L. hat „nicht lange mitgemacht im Krieg“ (S. 97) und: „er hat sich freiwillig gemeldet“ (S. 99) – beides bringt ihn ein Stück weit in Distanz.

Aber gerade diese Distanz ist im Blick auf den Krieg nicht zu haben, nicht aufrechtzuerhalten, zu widersinnig und inhuman sind Erfahrungen, die sich nicht ad acta legen lassen:

  • der sadistische Kompaniechef, der zwei gefangene, verletzte Franzosen erschießt (S. 116)
  • Obertertianer, die sich im Spiel erstechen und dazu lachen und den Prä an eine der widersinnigsten Erfahrungen erinnern: ein Franzose und ein Deutscher, die sich wechselseitig erstechen (S. 118)
  • ein Franzose, der wegen einer Hose erschossen wird (S. 121 f.)
  • die „Kugel aus Mitleid“ (S. 123) für ein schwerverletztes Pferd
  • „Lanzenstich, blutende Brust, verglaste Augen, offener Mund, verkrallte Hände – und die Fliegen! Überall Fliegen! (ebd.)

In Hesses „Demian“ (S. 138) stößt der Prä auf das Bild der Lemminge, der Millionen, die versagt haben („Wir taugen nichts“). Er hat sich selbst als „Masse Mensch“ erfahren, als „austauschbar“, als „Befehlsempfänger“. (S. 100) „‘Schwach‘ wäre es gewesen, das ‚Es-muss-sein‘ in Frage zu stellen. Ich stellte es in Frage, aber es half mir nichts. Desertionen endeten oft genug vor dem Erschießungskommando.“ (S. 101)

Bleibt nur das „Verstummen“, bleiben nur die „Albträume“ (S. 134)?

Ich finde beim „Prä“ nicht weniger als drei sehr konstruktive Antworten:

  • das so bewusste wie verborgene „daneben schießen“ (S. 116)
  • das in ganz wenigen Worten präzise Erinnern an den gefallenen Sixtus, das deutlich macht: jeder einzelne Mensch zählt (S. 115)
  • als Pädagoge zum Frieden zu erziehen, was auch und nicht zuletzt beinhaltet, das Grauen nie und nimmer dem Vergessen anheimzugeben!