Der ganz normale Wahn-Sinn, Teil III


Der ganz normale Wahn-Sinn, Teil III

Eine wahrheitsgetreue Schmunzelgeschichte

 

17.12.2022

 

— Fortsetzung —

 

Nun jedoch ist es endgültig klar: mit diesem Reifen fahre ich heute nirgendwo hin. Also ab nach Hause an die Garage. Werkzeug raus, Reifenwechsel.

Inzwischen ist es 13:00 Uhr. Es ist Wochenende. Folglich haben alle KFZ-Werkstätten bereits geschlossen. Ebenfalls folglich kann ich nirgends einen neuen Reifen montieren lassen, selbst dann nicht, sofern er bei einer Werkstatt auf Lager sein sollte. Oft sind es Kleinigkeiten, die eine Safari ins Scheitern zwingen können. Erwähnte ich das schon? Es hilft alles nichts: Ich muss eine Lösung mit meinen eigenen Reifen bzw. Rädern finden. Also sage ich bei der Verwandtschaft auf dem Hunsrück bescheid, dass ich Reifenprobleme habe und später kommen werde. Und ich weiß: Ich benötige unter normalen Umständen ca. 45 Minuten bis alle vier Räder gewechselt sind. Es wird folglich bereits zwischen 14:00 und 15:00 Uhr im Nachmittag sein, bis ich losfahren kann. Nicht jedoch heute. Noch immer wähne ich mich lediglich zwischen mythischen Ungeheuern wie Skylla und Charybdis (oder abgefahrenen Vorder- und Hinterreifen bzw. Winter- und Sommerrreifen…) — aber der eigentliche Alptraum der Nacht sollte in diesem Moment Tages-Realität werden…

Ich öffne das Garagentor und erinnere mich sofort daran, dass die Garage mit all meinem Gartenwerkzeug vollgestopft ist. Bis oben hin. Bis vorne ans Garagentor. Fein säuberlich gestapelt. Unmengen passen auf diese Weise in eine ganz normale Beton-Fertiggarage… Denn „Ordnung muss sein“. Das nun von mir benötigte Werkzeug ist einerseits „zum Greifen nah“ und dennoch unerreichbar weit weg. Denn es liegt unter einer Werkbank am anderen, dem hinteren Ende der Garage. Wie gesagt: Jedwed Ding an seinem Ort… Also: alles in den Hof herausräumen und sich bis zum Drehmomentschlüssel, der aufgesteckten 17er „Nuss“ sowie dem Wagenheber vorarbeiten. Irgendwann ist der Hof voll gestellt und die Garage bis zur Werkbank leer geräumt. Es ist jetzt bereits 13:55 Uhr. Ich kann — endlich!! — loslegen!

Ich gehe systematisch vor: 1. „Combo“ sichern: 1. Gang einlegen, Handbremse arretieren, drei Kunststoff-Keile unter die entsprechenden Räder legen, schon geht’s los. 2. Demontage des defekten Vorderreifens: Also geht’s dem Übeltäter vorne links an den Kragen: mit besagtem Drehmomentschlüssel zunächst etwas die Radmuttern lösen, danach das Auto mit dem Wagenheber hochbocken, Radmuttern entfernen und eins zu eins, d.h. wie sie auf der Radhalterung aufgeschraubt waren, auf ein Tuch oder Lappen legen, damit kein Sand o.ä. auf das eingefettete Gewinde gelangen kann (… wir erinnern uns: oft sind es kleinste Kleinigkeiten,…), sodann Rad herunternehmen… Scheiße! Ich hab‘ am Vorderrad angefangen. Klugerweise hätte ich jedoch am Hinterrad anfangen sollen, da ich dann sogleich das Ersatzrad, einen abgefahrenen Sommerreifen, auf die Hinterachse hätte montieren können. 3. Irrtum korrigieren: Also Vorderrad wieder aufmontieren, Radmuttern wieder anziehen, Wagen herunterlassen, hintere Radmuttern lösen, Hinterachse aufbocken, Hinterrad herunternehmen und, wie es so meine Kontroll-Gewohnheit ist, lasse ich meinen Blick geflissentlich über die Lauffläche dieses Winterreifens gleiten. Böser Fehler — an einem Tag wie diesem. Denn irgendein spitzes Plastikteil hat sich in die Lauffläche gebohrt und die Decke bis hinunter zum Stahlgewebe aufgeschlitzt. „Gott verdammte Scheiße!! Ich fass‘ es nicht…!!“, grantle ich nun doch halblaut vor mich hin. Mein Puls beschleunigt aus der Ruhephase auf 190mmHg. Aber auch sonst fühle ich mich nun wie der Alois Hingerl in der Persiflage von Ludwig Thoma „Der Münchner im Himmel„, als der jähe Zorn in mir aufsteigt, ja auflodert. Es ist heute einfach zum „Frohlocken“ — allerdings bedeutend zorniger… Da ich aufgrund der Rotations-Richtung nur die Winterreifen einer Seite miteinander tauschen kann, beide Reifen jedoch defekt sind, bleibt mir nur noch die Alternative: abgefahrene Sommerreifen montieren. Trotz Schneegestöber.

Ich arbeite mich also bis zu den Sommerreifen im hinteren Teil der Garage voran, werfe einen prüfenden Blick auf die Pneus und erkenne sofort: ok., das war’s. „Game over!“. All is lost!! Zurecht bemängelte bereits der letzte TÜV (Juni 2021!), dass ich diese Sommerreifen nicht länger fahren dürfe. Sie ähneln einfach zu sehr Formel-1-„Slicks“. Nicht so breit, aber wie diese ohne irgendein erkennbares Profil…

Mein düsteres Fazit: Heute werde ich hier nicht mehr wegkommen. Also alles zurück „auf Los“. Es ist wie ein déjà vue. Wie ein Film der rückwärts abläuft: die defekten Winterreifen nacheinander wieder aufmotieren, Radmuttern mit einem Drehmoment von 120Nm wieder fixieren, Auto abbocken, KFZ-Werkzeug in der Garage verstauen, zuletzt Gartenwerkzeug reinstopfen, Garagentor runterlassen und abschließen, zurück auf den Hausparkplatz, Auto ausladen, alles in den 2. Stock hochwuchten, zu Fuß — denn einen Aufzug gibt es nicht (muss ich diesen Fakt noch eigens erwähnen…?) —, Kram auspacken und dann erst einmal ’nen schönen Pott Kaffee mit ’nem daumendicken Worschdebrot (auf hochdeutsch: „Wurstbrot“) zum emotionalen Ausbalancieren! Denn seelische Balance, mithin „Seelenruhe“, neuhochdeutsch gerne „Resilienz“ genannt (altgr.: ataraxia, vgl. Terminus bei den Epikureern, Pyrrhoneern), ist ungeheuer wichtig, nicht nur für „Männer“ — seien es nun „blondgelockte Bestien“ oder ganz einfach Philosophen.

Das war dann doch etwas zu optimistisch gedacht — an einem Tag wie diesem… Denn als der Kaffee im Becher dampfte und ich voller Vorfreude den Kühlschrank öffnete, um die Wurst herauszuholen, da erinnerte ich mich, dass ich alle Wurst, ich betone: ALLE!, bei Ellen in den Korb gelegt hatte. Eine posttraumatische Anamnese. Dieser Korb war nun auf dem Hunsrück, ich aber war hier, in KKB. Ein Desaster. Ellen ist Vegetarierin; ich jedoch Carnivore. Können Sie sich vorstellen, werte Leserin, werter Leser, wie es sich für einen Carnivoren anfühlen muss, wenn im Kühlschrank, ja im ganzen Haus, kein Fitzelchen Fleisch noch ein Stückchen Wurst, ja nicht einmal dieses Zeugs von Fleisch- und/oder Wurst-Ersatz, aufzutreiben ist — also: gar KEINS?!! Ein Alptraum ist ein Disneyklassiker dagegen; Höllenqualen ein Labsal… Und ich war zu diesem Zeitpunkt — es ging bereits stark auf 15:00 Uhr zu, alle Metzgereien hatten längst schon geschlossen, es war Wochen-Ende — chronisch „Fleischwurst-unterversorgt“! Ein psychotraumatischer Super-GAU!! In meiner Verzweiflung und Wut hätte ich mir selbst in den Hintern beißen können, wenn ich nur drangekommen wäre…!!! Schon aus meiner Kindheit — ich war seinerzeit ein Dreikäsehoch von vielleicht drei Jahren, der noch nicht seine Nase auf die Tischkante legen konnte — gibt es die Anekdote zu berichten, dass unsere Mieterin, Frau Turkanik, mich eines Tages fragte, ob ich ein Stückchen Brot essen wolle. Worauf ich selbstbewusst und bestimmt geantwortet haben soll: „…aber mit Worscht obbedruff!!…“ (zu Hochdeutsch: „aber mit Wurst obendrauf!“) Können Sie verstehen, was das heißt, was das bedeutet…?! Bereits im zarten Alter von drei Jahren, wenn andere Kinder noch auf ihren Schnulli oder bereits auf ihr Tablet fixiert sind, war ich auf Wurst bzw. Fleischwurst konditioniert. Man brauchte mir nur mit einem Stückchen Fleischwurst zuwinken / zu winken (wie es der Metzger Hansen gerne tat…), um bei mir Speichelfluss auszulösen. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Oder wie mein Großvater väterlicherseits stets bedeutungsschwer zu sagen pflegte: „Bub, des beste Gemies is e schee Sticksche Fleisch…!“ (Übersetzung ins Hochdeutsche: „Junge, das beste Gemüse ist ein schönes Stückchen Fleisch!“). Und jetzt DAS!!! Ich fühle, wie ein tremor mich erfasst, mir die Sinne schwinden und mir schwarz vor Augen zu werden droht. Ohnmächtig sinke ich auf einen Stuhl nieder. Mein Tages-Bewusstsein verabschiedet sich, dieser reale Alptraum ist einfach zu viel für mein Ich! Blackout. Film-Riss. Ich weiß nicht, wieviel Stunden ich in diesem Dämmerzustand verweilte. Gefühlt, eine ganze Ewigkeit!

Ok., männliche Carnivoren sind entwicklungsgeschichtlich wie auch ernährungsphysiologisch zwar im Neandertal stehen geblieben. Auch heute noch essen sie liebend gerne rohes Fleisch, wie etwa Mett, Tartar, verschmähen aber auch Gebackenes (wie Schnitzel, Cotelette), Gebratenes (wie Schweinshaxn, Schweine- bzw. Rinderbraten) oder auch Gegrilltes (wie etwa Steak XXL, Pulled Beef oder „Döner“) nicht. Im Gegensatz hierzu beschränkte sich m.E. der Speisezettel der Neandertaler in Ermangelung von Pfannen und Induktionsgrills naturgemäß auf rohes oder über offenem Feuer gebruzzeltes Fleisch. Jedoch, und jetzt kommt’s, sofern es die Nahrungsaufnahme anbetrifft, haben sich manche dieser männlichen Fleischesser in den vergangenen zwei Millionen Jahren zu sog. „Flexitariern“ fortentwickelt. Wie etwa Chimpansen oder Paviane, die zwar grundsätzlich Vegetarier geblieben sind, aber gelegentlich doch ganz gezielt auf die Jagd gehen, um Frischfleisch zu erbeuten und ihren Proteinbedarf zu befriedigen — nur eben umgekehrt. Das heißt, wenn also partout keinerlei Fleisch noch Worscht im Kühlschrank aufzufinden ist, dann können Flexitarier-Carnivoren, notgedrungen, und unter Aufbietung aller Überlebenskräfte, auchauf Getreideprodukte wie etwa Döner-Fladenbrot oder Pizza umschwenken. Man denke etwa an eine knusprige Pizza „Vier Jahreszeiten“, „Salami, Schinken, Champignons“, „Peperoniwurst u. Vorderschinken“, u.v.a.m. . Dies ist in meiner schieren Verzweiflung der Strohhalm, an den sich in dieser Situation meine äußerste, meine existentielle Hoffnung nun verbissen klammert. Wenigstens diese „Henkersmahlzeit“ sei mir von den Moiren, den Schicksals-Göttinnen, an diesem Tage vergönnt, bevor ich Hungers ins dunkle Grab herniedersinke… Nö, nicht an Tagen wie diesem. Als ich zitternd das Funktelefon aus der Ladestation nehme, muss ich unwillkürlich an meinen prophetischen Leidensgenossen im „Alten Testament“ denken: Hiob! Eines Tages, so heißt es, habe Hiob völlig verzweifelt Jahwe-Gott mit den Worten angerufen: „… Gott Israels, warum tust Du mir das an…?!“ Und eine Stimme aus der Wolke antwortete ihm dunkel-lapidar: „Weil ich Dich nicht mag…“ Ja, wer weiß, vielleicht haben sich heute nicht nur die schicksalhaften Moiren sowie Gott und der Teufel gegen mich verschworen?! Wer kann’s wissen; wer kann’s sagen…?! Als ich also bei der Pizzeria anrufe, bei der ich seit über 20 Jahren Stammkunde bin, bescheinigt mir eine freundliche Avatar-Stimme, dass ich außerhalb der Öffnungszeiten anrufen würde… Es ist inzwischen 15:15 Uhr geworden. Die Küche hat vorübergehend geschlossen. Der Ofen ist aus! Da drehe ich mich um, und weine bitterlichst…—

Aber wie sagte bereits 1983 Paul Watzlawick in seinem Werk Anleitung zum Unglücklichsein sinngemäß: es gibt tausende Wege, wie man sein Leben unerträglich gestalten kann…— Ein wahres Wort, das sich überdeutlich zum Jahreswechsel 2022/23 zeigte. Aber dies ist eine andere, höchst dramatische Geschichte.