Der Händedruck des Kaisers
Alle nannten ihn noch den Kaiser, dabei lebte er als Exilant und Privatier in Holland, und in Deutschland war eine Republik. Die Republik verachtete er natürlich. Sie erschien ihm als Werk einer Verschwörung aus Juden und verräterischen Militärs. Aber jeder konnte sehen, wohin der Zug der Zeit ohne ihn fuhr: in Inflation, Chaos und Bürgerkrieg. Wenn die Herren Generäle endlich einsahen, dass diese Fahrt gestoppt werden musste und ihn zurückhaben wollten an die Spitze des Reiches – bitte, sie könnten kommen; aber auf Knien gefälligst! Auf Knien sollten sie zu ihm gerutscht kommen!
Er stand vom Schreibtisch auf, wo die wütenden Gedanken ihn gehindert hatten, an einer Abhandlung mit dem Titel Der Jude heute weiterzuschreiben, ging ins Nebenzimmer und öffnete den Schrank. Sofort hellte sich seine Miene auf. Vor seinen Augen hingen drei Uniformen; links die Uniform des Großen Kurfürsten, daneben die des Alten Fritz und schließlich seine eigene. Natürlich waren die Uniformen der verblichenen Hohenzollern nur Imitate, aber das spielte keine Rolle. Er überlegte, welche er anziehen sollte und entschied sich für den Soldatenrock Friedrichs.
Das Aus- und Anziehen ging umständlich vonstatten, denn er besaß nur eine gesunde Hand. Der linke Arm war mitsamt der Hand verkrüppelt. Schon deshalb mussten die Uniformen seiner Ahnen Imitate sein, weil bei all seinen Kleidungsstücken der linke Ärmel 15 Zentimeter kürzer war. Er war mit der Behinderung fertiggeworden; äußerlich zumindest; hatte reiten und sogar einhändig schießen gelernt. Aber innerlich wurde man nie damit fertig, ein Leben lang nicht, weil es sich ein Leben lang nicht änderte, dieses sichtbare Zeichen des Anders- und Ausgeschlossenseins!
Der Arm war zu Schaden gekommen bei seiner langen und komplizierten Geburt, aber niemand bemerkte es zunächst. Die beiden anwesenden Mediziner, ein Deutscher und ein Schotte, brachen in Tränen der Erleichterung und Erschütterung aus, als der Thronfolger endlich schrie und atmete. Der Schotte berichtete Queen Viktoria, der Mutter der Wöchnerin, dass der Prinz in jeder Hinsicht ein rundum vollkommenes Kind sei. How wrong he was!
Erst nach einigen Tagen musste der Schotte betrüblichere Nachrichten nach London schicken. Nun wurde dem Säugling auf verschiedene Weise zugesetzt: Man band seinen gesunden Arm täglich eine Stunde lang am Körper fest, damit er den andren Arm gebrauche; vergebens! Man wandte ein neuartiges Streckgerät an und versuchte es auch noch mit Elektroschocktherapie; alles vergebens! Weil die ganze linke Seite des Neugeborenen betroffen schien, durfte man eine unheilbare Schädigung der Nerven nicht mehr ausschließen.
Er spürte, wie die Aufregung ihn wieder in den Griff nahm; gerne hätte er jemand gehabt, dem er den Degen in den Leib rammen konnte. Immer wenn er an seinen linken Arm und seine lange und komplizierte Geburt dachte, stellte er sich diese Gewalttat vor. Ja, sein Urahn, Friedrich-Wilhelm, der Kurfürst; ha ha, ho ho, Potztausend! – der hätte es tun können! Schlankerhand! Steht da so ein verdammtes Subjekt; irgend so ein Dreckskerl und reißt das Maul auf! Aber nicht lang! Seiner Majestät Degen hat den Burschen schneller beseitigt, als die Untertanen gucken können! Maulaufreißen endet mit Tod des Maulaufreißers! Klarer Fall! Schafft mir den Kadaver aus den Augen!
Eine englische Mutter konnte natürlich nur Unglück bedeuten. Alles Englische war hassenswert, und wenn er einen Fehler gemacht hatte, dann den, dass er zu Lebzeiten seiner englischen Großmutter zu liberal über England gedacht hatte. Er hatte sich blenden lassen von britischer Macht und Lebensart; eine Zeitlang zumindest! Seine Mutter dagegen hatte er immer gehasst. Von Anfang an. Ihr Blick, wenn sie ihn ansah – schon als Kind fühlte er sich von ihr verachtet. Dabei war die verdammte Engländerin doch selber schuld an seinem Arm! Stellte sich an bei ihrer ersten Geburt, als ob sie kein Weib, sondern sonst was wäre! Krepierte beinahe dabei! Aber das war natürlich typisch! Selber schuld haben, dass er sein Leben mit diesem Arm verbringen musste, aber nicht sich selbst, sondern ihn – den Unschuldigen – dafür verachten! Er hatte schon gewusst, warum er bei seinem Regierungsantritt, gleich nach dem Tod des von der englischen Person mit jüdisch-demokratischem Unsinn vollgestopften Vaters, ihr Schloss hatte umstellen lassen. Im Laufschritt war eine Kompanie des Lehrbataillons, unterstützt von einer Abteilung Husaren, zur Stelle gewesen! Überall zogen Posten auf. Keiner durfte das Schloss verlassen. Sogar die Hofdame, die für den Verstorbenen Rosen pflücken wollte, hatte sich zu fügen! Ha! Das war die neue Handschrift gewesen! Sein persönliches Regiment! Von vornherein! Auf der Stelle! Potztausend! Verräterische Papiere ins Ausland schmuggeln? Unmöglich! Englische Ideen von einer parlamentarischen Monarchie in Deutschland verwirklichen? Nicht mit ihm! Er hasste alles, was nach demokratischem Unsinn roch. Die zivilen Minister am Hof waren ihm ein Gräuel. Sie hatten doch alle die Hosen so gestrichen voll, dass die ganze Wilhelmstraße zum Himmel stank!
Im übrigen sollte die Engländerin sehen, was er für ein Kerl war. Es galt, sie im Innersten zu treffen. Er würde alles im Handstreich vollführen und ohne Skrupel. Seinem kaiserlichen Verständnis nach hätten sie beim Berliner Trambahnerstreik fünfhundert Aufrührer über die Klinge springen lassen sollen, aber die Würmer unter ihm, selbst wenn sie Uniform trugen, waren verweichlicht und begriffen nichts. Neunzigtausend Russen ins Gelände zu treiben und sie dort unter allerschärfster Bewachung verdursten zu lassen – das bedeutete es, Kaiser zu sein und die schwere Bürde zu tragen! Selbst für einen Usurpator wie Napoleon waren eine Million Tote ein Dreck!
Wo war er stehen geblieben? Natürlich wieder bei der Engländerin! Nein, bei ihrer Vernichtung! Auf Knien sollte sie zu ihm gerutscht kommen, ihm die Füße lecken und stammeln: Euer Majestät verkörpern den universalen Herrscher! Ich bitte untertänigst um Verzeihung! Sie lebte zurückgezogen in ihrem Schloss und starb im selben Jahr wie ihre Mutter, 1901. Typisch englische Feigheit, sich so schnell davonzumachen! Die Lieblingstochter der Lieblingsmutter hinterhergestorben. Liebe, Liebe, Liebe, Liebe – Scheiße! War keiner da, dem er den Degen in den Leib rammen konnte?
Den Ausbau der Flotte erlebte sie noch. Das einzige Standbein, über das die Engländer verfügten, war er gesonnen, ihnen wegzuschlagen! Merkwürdig: einen Mann vom Kaliber Bismarcks hatte er in die Wüste geschickt oder besser gesagt auf den wohlverdienten Ohrensessel; aber dann, im Krieg, hatten die Generäle im Verein mit jüdischen Demokraten hinter seinem Rücken alles vermasselt. Das Volk war betrogen worden; es ahnte nichts vom Ring der Verschwörung in der modernen Zeit! Er aber fühlte den Pulsschlag dieser Zeit, und er würde seinem Volk die Augen öffnen! Auf seinem Schreibtisch lag die Revolutionsschrift. Sie hieß: Der Jude heute; er würde gleich weiterschreiben daran.
So, jetzt war die Uniform an! Das Schlimmste waren mal wieder die Knöpfe gewesen. Manchmal ging es mit der einen Hand spielend, dann wieder war es zum Verzweifeln. Da stand er nun, Wilhelm im Soldatenrock Friedrichs! Die große Vergangenheit gemahnte an die Zukunft. Keiner sollte glauben, dass er seine Rolle schon ausgespielt hatte. Wenn Wissen Macht war, so besaß er alle Macht der Welt, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er auf seinen angestammten Thron zurückkehrte. Seine Erkenntnisse waren freilich nicht leicht zu vermitteln; sie enthielten aber die Wahrheit!
Er ging wieder ins Arbeitszimmer, setzte sich an den Schreibtisch und schrieb: „Es ist höchste Zeit, die Lügen zu bekämpfen, die immer noch von demokratischen Juden und Sozialisten in Deutschland in Umlauf gebracht werden! Die internationale jüdische Freimaurerei leitet eine Weltverschwörung gegen die Wiedergeburt eines germanischen Nationalismus und gegen die kaiserliche Unabhängigkeit ein. Kein Deutscher vergesse das je und ruhe nicht, bis diese Schmarotzer vom deutschen Boden vertilgt und ausgelöscht sind.“
Es krachte – was war das? Er sah auf die Jacke. Da! Ein Knopf war geplatzt. Ein Knopf an der Uniform Friedrichs des Großen. Er spürte, wie ihm die Adern im Kopf anschwollen. Himmel, Arsch und Zwirn! Jetzt musste er sich wieder umziehen! Alles war gegen ihn verschworen, aber diesmal sollte es einer abbekommen! Er drehte seine Ringe an den Fingern der rechten Hand um und klingelte nach der Köchin …
Ah, gute Frau! Kommen Sie einmal her! Nein, näher! Kommen Sie nur heran, Potztausend! Da schauen Sie, was passiert ist! Ein Knopf ist abgesprungen, desertiert sozusagen. Und das an der Uniform meines Ahnen, des großen Preußenkönigs, wenn Ihnen das etwas sagt. Sie bringen es in Ordnung, nicht wahr?
Die Köchin, die ihn ansah, hatte Mühe, Worte zu finden:
Ich werde dem Dienstmädchen Bescheid sagen.
Er streckte ihr die Hand hin:
Und dann wollte ich Ihnen einmal herzlich Dankeschön sagen für all die Disziplin, mit der Sie mir dienen!
Keine Ursache, stammelte die Köchin und wollte entfliehen. Er aber, noch immer die Hand hinstreckend, runzelte die Stirn. Da nahm sie die Hand, voller Verzweiflung.
Er grinste und drückte zu, genau wissend, was kam, denn er hatte es früher schon bei vielen ausprobiert:
Sie lächelte eine Sekunde lang verwirrt und versuchte die Hand zurückzuziehen. Da drückte er noch fester zu. Sie wagte nicht zu sagen, dass es ihr weh tat, sondern verdrehte nur leicht den ganzen Körper. Jetzt hatte er genug von ihr, er drückte zu mit aller Macht und sah sie endlich: ihre Tränen, die sich bildeten.
Die Köchin aber weinte nicht nur. Sie strengte sich auch noch an, nicht hinzusehen auf den offenen Hosenlatz des Kaisers.