Die unsichtbare Gefahr — Covid-19 (Teil V, I)


Die unsichtbare Gefahr — Covid-19 (Teil V, I)

16.05. bis 26.06.2020

 

„Wo aber Gefahr ist, wächst

Das Rettende auch.“ Hölderlin, Patmos-Hymne, 1803

 

Rückblick auf die Essay-Reihe:

Befasste sich der erste Teil dieser Essay-Reihe mit einem ersten, skizzenhaften Fakten-Check bzgl. des Corona-Covid-19 Virus und zeigte an, was wir wissen können, so zeigte der zweite Teil wesentliche Aspekte der Pandemie-Auswirkungen auf unser Leben: zum einen Existenz-Angst (= „horizontale Schockwelle“), ausgelöst durch die wirtschaftlichen Folgen des Shutdowns / Lockdowns; zum anderen existentielle Angst (= „vertikale Schockwelle“), ausgelöst durch den möglichen Verlust unserer Gesundheit bzw. unseres Lebens. Der dritte Teil befasste sich mit der Flut an Informationen aller Art und Nachrichten aller Couleur zum Pandemie-Thema und ihre Auswirkungen auf unsere Psyche, die ebenfalls existentielle Angst in uns auslösen können. Wir sahen: „Information“ ist nicht gleich Information, und „Nachrichten zum Thema“ sind nicht gleich Nachrichten. Hintergrund: es gibt wesentliche Unterschiede sowohl bei den „Informationen“ als bloße Meinungen, gegründet in rein persönlichen Neigungen, Gefühlen und Spekulationen sowie jenen Sach- und Fach-Informationen, basierend auf wissenschaftlich fundierten Forschungs-Ergebnissen; als auch zwischen „Nachrichten“ einerseits, die sich u.a. auf gezielte Fehl-Informationen gründen (z.B. siehe die Präsidenten-Fake News zu diesem Thema, Partei-Propaganda, u.ä.m.; vgl. USA, Russland, China, Brasilien, Weißrussland), und Qualitäts-Nachrichten andererseits, basierend auf methodisch recherchierten, sodann redaktionell redigierten wissenschaftlichen Erkenntnissen und Fakten. Der vierte Essay beschrieb verschiedene Formen und Chancen des Rettenden innerhalb dieser Krise. Versuchen wir nun von verschiedenen Seiten einen möglichen Einblick als Ausblick auf das weitere Geschehen anhand von Kant’s vierter Frage: „Was aber ist der Mensch?“

 

„Was aber ist der Mensch?“ (Kant’s vierte Frage im Horizont dieser Pandemie…)

Weisen möglichen Mensch-Seins

Um es gleich vorab zu sagen: Wir können nicht abschließend sagen, was der Mensch wesentlich ist. Wir können lediglich beschreiben, wie er sich phänotypisch verhält (von gr. phaino im Sinne von sich zeigen). Als „mögliche Existenz“ (Terminus Karl Jaspers) ist er stets mehr als die Summe seiner objektiv beschreibbaren Einzelaspekte, da er als offene Struktur seines Mensch-Seins ein unabschließbarer „offener Horizont“ (Jaspers) ist. Die beschreibbaren Einzelaspekte seines Mensch-Seins sind Forschungs-Gegenstand der Human-Wissenschaften. Alles, was am Dasein des Menschen meßbar, nach Maß & Zahl experimentell erforschbar ist — von der Molekular-Struktur seiner Gene und Zellen (Genforschung) bis hin zum rückverfolgbaren Weg seiner Mensch-Werdung (Paläoanthropologie) — gehört in diesen äußerst komplexen Wissenschafts-Bereich mit seinen interdisziplinär sich ergänzenden Partikularwissenschaften. Sein Mensch-Sein als „Dasein“, also sein Etwas-Sein, ist Fakt. Aber Mensch-Sein als „Existenz“ ist weit mehr als dies. Seine inneren Wirklichkeiten und Affekte äußern sich, wenn überhaupt, nur indirekt als Phänomene seiner Handlungen. Diese spiegeln jene wider. So zum Beispiel sein Lachen, das ihm im Bereich der Tiere eine Sonderstellung einräumt, als Zeichen seiner inneren Freude (vgl. u.a. Henri Bergson, 1859-1941). Aber auch geäußerte Wut als Phänomen seiner Aggressionen, seine hochkomplexe „Welt der Affekte“ und maßvollen Gefühle, spiegeln sich in phänotypischen Verhaltensweisen wider, die der wissenschaftlichen Erforschung z.B. in Psychologie, Philosophie, den Sozialwissenschaften, etc. zugänglich sind. Diese Wissenschaften, die sog. „klassischen Geisteswissenschaften“, gehören zu einer anderen Wissenschafts-Kategorie als die naturwissenschaftlich arbeitenden Humanwissenschaften, da sie das menschliche Wirklich-Sein, seine condition humaine, erforschen. Ein wichtiger Aspekt dieser möglichen Wirklichkeiten menschlichen Seins ist seine Bedingung zum wahr-sein (verbal gedacht) sowie wahr-Sein (substantivisch gedacht). Während nun die Summe seiner meßbaren Daten ein Fakt ist, ist die „mögliche Existenz“ menschlichen Seins, dieses spezifische Mehr-Sein als die Summe seiner beschreibbaren Teile, sein lebenslanger Auftrag und ständiger Appell und damit ineins: unabschließbar. Existenz  , im Sinne der „Existenzphilosophie“, ist Mensch-Sein in Veränderung, im Wandel, im Werden und damit ineins: ein Anders- und auch Anderer-Werden. Des Menschen Leben ist  Veränderung, ist  stets auch mögliches Anders-Sein. Somit ist der Mensch auch stets mehr, als er von sich weiß und jemals von sich wissen kann (vgl. Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, S. 480; ders., Einführung in die Philosophie, S. 50). Dies gilt sowohl für den lebenslangen Prozess einer Selbst-Erkenntnis im Bereich der individuellen Mensch-Werdung (vgl. Chilon von Sparta: „gnōthi seautón!“), als auch für den forschenden Bereich im Spektrum der Human-Wissenschaften. Anders gesagt: Wir können stets nur einzelne „Pixel“ unseres persönlichen wie auch allgemeinen Mensch-Seins möglichst genau erkennen und beschreiben, diese „Bild-Punkte“ sodann dem bereits erkannten Menschen-„Bild“ (das ich bereits von mir selbst als mein „Ich selbst“ sowie als mein „Selbst“ habe; das von den Humanwissenschaften bisher allgemein und für alle Menschen gleichermaßen gültig entworfen wurde…) hinzu-fügen, ohne jedoch abschließend sagen zu können, mit welchem „Pixel“ das ganze Bild  „Mensch“ umfassend entworfen sein wird. Während nun das individuelle Mensch-Sein jedes Mal von einem „existentiellen Nullpunkt“, der Geburt, aus beginnt und mit dem Tod als zumindest biologischen Endpunkt schließt, ist die wissenschaftliche Erforschung der conditio humana ein unabgeschlossener wie auch unabschließbarer Prozess. Leben und darin das Mensch-Sein sind nur als Entwicklung, ein fortwährendes Werden. Daher Heraklits (ca. 520-460 v.Chr.) Auffassung des „panta rhei“. Kant’s vierte Frage, „was aber ist der Mensch?“, zielte auf die existentielle Ebene menschlichen Seins und darin speziell auf die beiden Wirklichkeiten von „Verstand“/ratio und „Vernunft“/intellectus. Nur weil der Mensch diese beiden grundlegenden Wirklichkeiten ist, kann Mensch-Sein u.a. mögliches Wahr-Sein in all seinen Abstufungen, Schattierung, in diesem schier endlos weiten Horizont des Möglichen, bis hin zu den Umschlagspunkten von Unwahrsein und gezielter Lüge sein. Wahr-Sein ist — wie etwa der aufrechte Gang, oder jene inneren Wirklichkeiten des ordnenden und zuordnenden Verstandes, der erhellenden, aufklarenden, Sinn-stiftenden Vernunft, des systematisierenden, zu Ganzheiten schließenden Geistes, u.ä.m. — als anthropologisches Merkmal ein Alleinstellungs-Merkmal im Bereich der Lebewesen, eine sog. „anthropologische Konstante“, denn es unterscheidet den Menschen graduell von allen anderen Tieren. Um den kategorialen Unterschied von geglaubten versus sachlichen Wahr-Seins wird es bei der Charakterisierung der beiden Corona-Lager später gehen.

 

Die Genealogie menschlichen Seins

Werfen wir zunächst jedoch einen flüchtigen Blick auf die Entfaltung und Entwicklung des „Lebens-Baumes“: der „Baum des Lebens“ begann mit den ersten nachweisbaren Urzellen vor Milliarden von Jahren und führte zur ungeheuren Komplexität dessen, was wir heute mit einem Wort „Natur“ (von lat. „nascor“, geboren aus einem Anderen…) bzw. „Physis“ (von gr. „phyein“, werden aus sich selbst heraus…) nennen. Deren Artenvielfalt konnte noch immer nicht abschließend durch die Wissenschaften beschrieben und katalogisiert werden, da, selbst in der Epoche des heutigen „Artensterbens“, immer wieder neue Arten entdeckt werden. Diese Neuentdeckungen gelten sowohl für komplexere Arten wie etwa Insekten, Vögel, Amphibien und Säugetiere als auch für einfachere Arten wie etwa Viren (vgl. Covid-19). Innerhalb dieser schier unübersehbaren Fülle von Lebens-Entfaltung reicht eine  ununterbrochene Lebens-Linie über „Udo“ (dem 2015 im Allgäu entdeckten „Danuvius Guggenmosi“, dessen Skelett-Teile auf ca. 11,62 Mio. Jahre datiert werden) bzw. von „Lucy“ (einem 1974 entdeckten Australopethicus afarensis, dessen Knochen auf ca. 3,2 Mio Jahre datiert werden) bis zum heutigen Menschen. Wir alle kennen die bildhafte anatomische Darstellung der „Hominisation“ / Anthropogenese in ca. 10 Bildsegmenten. Innerhalb dieser komplexen Hominiden-Homini-Linie überblicken wir, mehr oder minder weit in die Vergangenheit zurückschauend, die je eigene, die rein persönliche Linie unserer individuellen Genealogie, also der uns selbst begründenden, persönlichen Ahnenreihe (Stichwort: „Stammbaum“), bis zu unserer Person. Jedoch: Mit dem Jahr 2020 ist voraussichtlich weder die Lebens-Linie der Natur noch die Homo-Linie des Menschen, noch darin mein je eigenes Leben endgültig erfasst, beschrieben, definiert. Das Leben in der Natur, und darin unser je eigenes, schreitet scheinbar unaufhörlich weiter voran. Um es in Abwandlung eines Albert Schweitzers Wortes zu sagen: Alles Leben ist Leben inmitten von Leben, das leben will — und das sich ad infinitum weiterhin ent-wickelt bzw. ent-faltet. Wir können also sowohl in den Wissenschaften als auch im je eigenen Leben stets nur in Rückblicken sagen, wer bzw. was wir bisher (existentiell) geworden sind — nicht jedoch, wer oder was wir zukünftig sein werden. Diese Unterscheidung wird im weiteren Verlauf des Essays relevant sein.

Fortsetzung folgt.

 

Quellen und Hinweise

Klassifikation, Struktur u. Aufbau des Covid-19 Virus

https://www.pharmawiki.ch/wiki/index.php?wiki=Covid-19

 

Klassifikation

https://www.pharmawiki.ch/wiki/media/Coronaviren_1.png

 

 

Stammbaum des Lebens

https://www.youtube.com/watch?v=QjqG6ob40XM

 

Stammbaum des Menschen

https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x/stammbaum-100.html