Ein Buchgeschenk
Fortsetzung
Peter Wust: Gestalten und Gedanken. Rückblick auf mein Leben. München 1950, Kösel-Verlag GmbH&Co., Lizenzausgabe 1996 des Gollenstein Verlages, Blieskastel, 272 Seiten. Mit historischen Fotos und einem Beitrag von Hubert Rohde und Fritz Bersin.
Die Erzählkunst Peter Wusts wirkt genau und eindringlich. Dies betrifft nicht allein die Schilderungen der eigenen seelischen Verfassung, die von Niedergeschmettert-Sein über die scheinbare Ausweglosigkeit aller Hoffnung auf Bildung und einen akademischen Lebensweg bis zum dankbaren Entzücken, dass es damit doch glücken könnte, reichen, sondern ist auch bei der Charakterisierung von Autoritätspersonen seiner Kinder- und Jugendjahre zu beobachten. „Mein Vater war eine außerordentlich weiche, empfindsame Natur, die zeitweilig sogar zu allerhand phantastischen Plänen geneigt war.“ (35) Die Mutter Peter Wusts wird dagegen als wirklichkeitsaffin und mit beiden Beinen auf dem Boden stehend bezeichnet. Eine solche Ehegemeinschaft lässt Spannungen vermuten, was Peter Wust im Verlauf seines Textes auch bestätigt. Zwar blieben die Eheleute beisammen, die Mutter Peter Wusts hatte allerdings manches Leid zu tragen, weil sie die Versäumnisse ihres grüblerischen und träumerischen Ehemannes im täglichen Leben auszugleichen bestrebt war. Merkwürdig mutet es an, dass der Vater aufgrund der eigenen seelischen Gestimmtheit nicht mehr Verständnis für die intellektuellen Neigungen seines Sohnes Peter aufgebracht hat. Auch von der mütterlichen Seite war das grüblerische Element in einem Familienmitglied vorhanden, nämlich beim Großvater Michel Fexmer. „Es war zwar keine Schwermut in seinem Wesen“, heißt es auf Seite 52, „aber ein Tropfen von weltbeschaulicher Neigung war in sein Blut geraten, und diese Anlage brachte ihn in manchen Konflikt mit der Wirklichkeit, die weniger stilles Betrachten als kräftiges Zupacken in den kleinen Bezirken der Alltagsgeschäfte verlangt.“ Weiter beschreibt Peter Wust seinen Großvater als „kontemplativen Maurermeister“, der nach einem missglückten Geschäftsversuch in Paris habe erkennen müssen, „daß man die scharfen Ecken und Kanten der Wirklichkeit nicht mit phantastischen Hirngespinsten wegpolieren kann.“ (53) Doch mit den Jahren, und erst recht im Alter, nahm die Wunderlichkeit des Großvaters zu, eine „Lesewut“ (54) hatte ihn befallen, von der er nicht mehr abließ. „Er las und las, und schließlich las und grübelte er sich in den Tod hinein.“ (57 f.) Der Enkel Peter Wust betrachtet mit Sorge die grüblerische Erblast, die ihm offensichtlich mitgegeben war, sehnt er sich doch zuweilen, wie bereits erwähnt, „nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit“. Doch muss festgestellt werden, dass im Enkel die Anlage produktiv wurde und sich nicht in sich selbst verzehrte.
Für Ostern 1900 fasste Pfarrer Braun, der den jungen Peter Wust in Latein unterrichtete, die Prüfung für die Aufnahme am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Trier ins Auge. Der Schüler würde im Falle des Bestehens im dortigen Bischöflichen Konvikt wohnen. Die Wintermonate zuvor wollte der Pfarrer seinen Schützling öfter als bisher die lateinische Grammatik und Syntax lehren, weshalb Peter Wust bei zwei Großtanten in Wahlen vorübergehend Quartier nahm. Die Atmosphäre im kleinen Großtanten-Haus schildert Peter Wust meisterhaft: „Das ganze Leben hatte in diesem idyllischen Winkel eine episch-schöne und sanfte Breite und Zerdehntheit. Jede Minute zog sich unendlich in die Länge, aber mit einer solchen Annehmlichkeit, daß man hier kaum das Gespenst der Langeweile, die doch Kinder so leicht ankommt, zu fürchten brauchte. Man kam sich wie in eine fernab gelegene Meeresbucht verschlagen vor, die ganz von hohen Bergen eingerahmt ist und in der man das Gebraus der Wogen nur noch wie aus ganz weiter, weltabgelegener Ferne zu vernehmen glaubt. Noch heute liegt für mich ein unbeschreiblicher Zauber der schönsten Erinnerung auf diesem still-beschaulichen Heim, weil es die erste Stätte war, wo ich schon als Kind zu ahnen anfing, was der endlich erlangte Gottesfriede für eine vom Lebenskampf aufgewühlte Menschenbrust bedeuten kann.“ (162 f.)
Nach bestandener Prüfung, dem Eintritt ins Gymnasium und Konvikt in Trier sind die größten Hürden der ersten Lebenszeit für den jungen Peter Wust überwunden. Die materielle Not im Elternhaus strahlt jedoch auch in sein neues Leben hinein. Es war üblich, dass sich die Konviktsschüler morgens im Hof versammelten, bevor sie die Anordnung zum Gang ins Gymnasium erhielten. In der kalten Jahreszeit fiel Peter Wust als einziger Schüler ohne Mantel auf. Er wurde zum Rektor gerufen. Habe ich mich irgendeines Versäumnisses schuldig gemacht?, fragte er sich auf dem Weg zum Internatseiter. Warum er keinen Mantel trage wie alle anderen Schüler, fragte der Rektor. Die Eltern wollten ihm einen Mantel kaufen, könnten es momentan aber nicht leisten und hätten ihn um Geduld gebeten, lautete Peter Wusts Antwort. Der Rektor bestellte ihn nach dem Mittagessen wieder zu sich. Ein älterer Schüler wartete dann mit dem Rektor auf Peter Wust und ging mit ihm in die Stadt, einen Mantel zu kaufen. „Das Geld dafür hatte der Schüler schon vorher vom Direktor bekommen. Nach dem Spaziergang sollte ich mich dem Direktor im neuen Mantel vorstellen. Natürlich war ich so ergriffen von dem ganzen Vorfall, daß ich nur unbeholfen Worte fand, um für diese Wohltat gebührend zu danken. Was ich in diesem Augenblick wirklich empfand, das mochten ihm mehr meine Augen andeuten, als meine hingestammelten Sätze zum Ausdruck bringen konnten. Und noch bis heute habe ich den Mantel des Herrn Prälaten Peter Anheier nicht vergessen.“ (229)
Ein suchender und Fragen stellender Geist ist Peter Wust geblieben, auch als er zum Gymnasiallehrer und später Professor für Philosophie an der Universität Münster ernannt worden war. Seine Autobiographie lädt ein zur Lektüre seines Hauptwerkes „Ungewißheit und Wagnis“, erschienen 1937, worin er die Erfahrungen seines Lebens- und Gedankenweges, das Streben nach Sicherheit und die dauernde Erfahrung der Unsicherheit von der Warte der Philosophie aus beleuchtet.