Ein Zauber leiht mir Schwingen, Fortsetzung


Ein Zauber leiht mir Schwingen

Anmerkungen zu Petrarca, siebter Teil

 

III

Erweist sich am Ende als Siegerin, die für wenige glückliche Augenblicke überwunden schien: die Zeit? Spielen >irgendwann< nicht mehr Entzücken, Hoffen oder Leiden eine Rolle, sondern nur Vergehen und Verlöschen? Der Sommer geht, des Herbstes Nebel streichen / Um dürres Laub, und in des Abschieds Zeichen / Bring ich der Liebe letzte Opfer dar. (Se bianche non son prima ambe le tempie) Wenn der Liebende vergessen haben sollte, dass die Zeit über ihn hinwegstreicht wie über alles andere, sieht er nun mit nüchtern gewordenem Sinn und grauen Schläfen langsam weichen [ … ], was Schmerz und Wonne war. Er bleibt dabei wunschlos, lehnt sich nicht auf, denn die Flamme, die sein Herz von Liebesgluten // Noch jüngst entbrennen ließ: wie ward sie blass! Die Zeit holt aus zum großen Gegenschlag, aber sie ist dabei gnädig genug, ein Betäubungsmittel zu verabreichen, das ihre alles verschlingende Kraft kaum noch fühlen lässt: Gleichgül­tigkeit, Apathie. Die Liebe erscheint in diesem Sonett wie ein Gewitter, das sich hinter die Berge zurückzieht. Sie vermag Petrarcas Schlaf (oder den des lyrischen Ichs – wollte ich darauf nicht noch zu sprechen kommen?, fragte ich Juana. Tu ich es gleich, sobald ich den angefangenen Satz zu Ende gebracht habe!) noch zu schrecken, aber: sie kann mich nicht mehr wecken. Gut möglich, dass Petrarca wieder >zurückrudert< und erneut gepackt wird von der Liebesglut, sagte ich zu Juana, aber ein neuer Ton ist angeschla­gen: Resignation angesichts der nivellierenden Zeit. Gehen wir diesem >Ton< weiter nach! sagte ich zu Juana. Zuvor jedoch ein Wort zum >lyrischen Ich< bei Petrarca! Ich verstehe unter dem >lyrischen Ich< die Möglichkeit für einen Autor, im Gedicht „ich“ zu sagen und sich selbst nicht zu meinen, also in der Ich-Perspektive eine Rolle anzuneh­men und zu gestalten. Aber gerade in der Lyrik als der „subjektivsten der drei Naturfor­men [ … ] der Dichtung“[1] scheint mir der umgekehrte Fall natürlicher zu sein: Dass der Au­tor mit „ich“ sich selbst meint und ausspricht. Wenn Petrarca in seinen Sonetten und Kanzonen „ich“ sagt, meint er sich selbst. Auch unter der Annahme, dass Laura der Phantasie Petrarcas entsprungen ist und der Autor sein Ich auf die Reise schickte, um die Frage beantworten zu können, die meine kleine Ansprache an dich eröffnet hat, Ju­ana, sagte ich zu Juana, nämlich: Was ist die Liebe?, ist es immer noch kein >angenom­menes Ich<, das diese Forschungsreise unternimmt, sondern Petrarca selbst. Also ver­zichte ich für den Rest meiner kleinen Ansprache an dich auf die Kategorie des lyrischen Ichs, sagte ich zu Juana … Wenn wir die Zeit in unsre >Rechnung< wieder aufgenommen haben, die wir in der Liebe >kurzzeitig< mochten vergessen haben, denken wir auch an den Tod, sei es der eigene oder der des geliebten Menschen. Wohin dann mit der Liebe? Löscht der Gedanke an den Tod der Geliebten die Liebe aus? Wird die Liebe >unterbro­chen< oder zeigt sie sich nicht gerade in Schmerz und Verzweiflung? Letzteres scheint offensichtlich zu sein, aber so einfach erscheint es mir gerade nicht, sagte ich zu Juana. Denn wenn Schmerz und Verzweiflung über den Tod des geliebten Menschen schwächer geworden und >verklungen< sind, ist dann nicht auch die Liebe verwandelt?, fragte ich Juana. Ist sie nicht ebenfalls schwächer geworden und bereit zu verklingen? Ich habe be­reits erwähnt, dass die kunstvolle Ausbreitung von Lauras Sterben und Andenken eine Besonderheit darstellt und nicht zu passen scheint zu einer >normalen Liebesge­schichte<; ob dies als Hinweis für den reinen Kunstcharakter Lauras zu werten ist, ver­mag ich jedoch nicht zu entscheiden, sagte ich zu Juana. Im Traum ist Laura ihrem Dichter erschienen; es tröstet ihn nicht, im Gegenteil: In Angst und Trauer will ihr Glanz sich wenden. (Solea lontana in sonno consolarme) Des Mitleids Lächeln erfährt er von ihr, es vollendet sich in tiefstem Schmerz. Er >hört< Laura zu ihm sprechen: sie verkün­det ihm, was er schon ahnte: dass Gott mich zwingt zu gehen. Das wirkt wie eine Betäu­bung auf ihn, >hin und her gerissen< schwankt er zwischen trauriger Einsicht und Aufleh­nung: Doch nein! – Mit Donners Dröhnen müsst erreichen / Mein Ohr, was leis mein In­nerstes vernommen. (O misera, ed orribil visione!) Dann glaubt er es doch wieder: Laura ist tot. Lieber Gott, lass mich ihr Schicksal teilen! Wozu noch leben, wenn der Durst des Herzens, das in ihr nur lebt, nicht mehr gestillt werden kann? … Ich rudere noch einmal zurück, Juana, sagte ich zu Juana: Die kunstvolle Beschreibung der Ahnung von Lauras Tod stütze die These, dass Petrarca eine Phantasiegestalt besinge und betraure, meinte ich gerade – umgekehrt lässt es sich auch denken: Dass die tiefe Liebe zu einer realen Laura ihren Tod für ihn erfahrbar machte, bevor er es sicher wusste. Haben wir keine Beispiele für solche trüben Vorahnungen? Zerbrach nicht schon einer Mutter das Bild ih­res Sohnes in der Hand genau in dem Moment, in dem er als Soldat weit entfernt ver­wundet wurde oder starb? Mit den >undeutlichen Sphären< unseres Lebens geht es in Petrarcas Sonetten weiter, den äußersten Rand unserer Denk- und Gefühlsmöglichkeiten anleuchtend. In I´pur asculto; e non odo novella fragt er nach einem >Grund< für Lauras Tod ( dass es die Pest gewesen sein soll, die von 1347 bis ´52 epidemisch war und „viele Millionen Opfer“ forderte, wie ein Lexikon ausweist, genügt ihm nicht als Antwort ). Er vermutet, dass Lauras Einzigartigkeit an Tugend wie an Schönheit sie exponierte vor – der Natur oder dem Schicksal? Petrarca spricht von Gott: Ruft sie, die schön und rein, / Die Stimme Gottes nach des Himmels Reichen? Ein merkwürdiger Gedanke! Was Gott besonders >gelungen< ist, ein Mensch wie Laura, soll ihm Grund sein zu vorzeitiger Ver­nichtung? Dass gerade das Außerordentliche dem Tod anheim gegeben ist, ist eine Er­fahrung, die nicht nur Petrarca beschrieben hat. Oder gibt es diese Erfahrung nur des­halb, weil wir dem Außerordentlichen besondere Aufmerksamkeit widmen und sein Ver­gehen stärker registrieren als beim Gemeinen, das bekanntlich klanglos zum Orkus hin­abgeht? >Verbraucht< die Natur für die außerordentliche Eigenschaft eines Menschen – sei es Schönheit, Klugheit oder Tugend – soviel Energie, die sie sonst zur Erhaltung des bloßen Lebens zur Verfügung hat? Ach, wenn es so einfach wäre!, rief ich vor Juana. Sind nicht schon genügend außerordentlich begabte Menschen alt und grau geworden? Starb nicht mein Lieblingsphilosoph Ernst Bloch im biblischen Alter von 92 Jahren? Nein, wenn es dieses Phänomen „Wen die Götter lieben …“ wirklich gibt, muss anderes hinein­spielen oder den Ausschlag geben, als ich mir denken kann, sagte ich zu Juana. Halte ich mich an Petrarcas Sonette, für die ich momentan allenfalls ein wenig Sinn entwickeln kann, anstatt ins freie Philosophieren >abzugleiten<!, ermahnte ich mich vor Juana … „In Zeiten, wenn uns eine wichtige, auf unser Leben einflussreiche Person verlässt, pflegen wir auf unser eigenes Selbst zurückzukehren, gewohnt, nur dasjenige schmerzlich zu empfinden, was wir persönlich für die Folge zu entbehren haben“, schrieb Goethe 1829 anlässlich der Herausgabe seines Briefwechsels mit Schiller. Genauso ergeht es Petrarca. Seine Klagen meinen ihn selbst, den eigenen Verlust. Sie, die mir Sonne, Sonne war und Leben! [ … ] Stirbt all mein süßes Leid, mein bittres Glück.“ Sein Spiel ist aus, sein Lebensmut erschöpft: In nichts zerrinn ich, wenn dein Bild vergeht. (Oimè il bel viso; oimè il soave sguardo). Bricht er nun in diese Art Klagen aus?, fragte ich Juana: Dass sie unerreichbar entfernt ist von ihm, nachdem sie vorher immerhin >da< war, wenn auch nicht in der von ihm gewünschten Weise? Überraschend wirkt der Vers, dass sich Laura in ihrer Todesstunde liebend zu Petrarca bekannt habe. Eine Erläuterung zu lesen, hielte ich jetzt für sinnvoll, sagte ich zu Juana. Hat der entfernte Petrarca diese Informa­tion später von Zeugen von Lauras Tod erhalten? Warum heißt es am Schluss des So­netts: – Doch deine Worte hat der Wind verweht? Bedeutet das nicht, Laura hat sich zu Petrarca bekannt, nicht mit einer Geste, einem Blick, sondern >in Worten<? Wäre das nicht großartig für Petrarca, auch wenn dann die Trauer um ihren Verlust noch einmal gesteigert würde? Hat er darum nicht Jahr um Jahr gerungen und sich nichts anderes er­hofft? Kommt er auf dieses angebliche Liebesgeständnis Lauras in ihrer Todesstunde in anderen Sonetten zurück? Viele Fragen!, sagte ich zu Juana. (Ich habe mehr Fragen als Antworten, fügte ich hinzu. Sobald ich anfange zu lesen und >kommentieren< will, drängen sich die Fragen vor und ziehen andre nach.) Den Gedanken an Selbstmord drückt La vita fugge, e non s´arresta un´ ora aus: Es schmerzt und drängt, zu enden meine Not, / Mein Elend mit vermessner Hand zu heilen. Im Todesjahr Lauras ( dem angeblichen Todesjahr ) zählte Petrarca 48 Jahre; erstaunlich immerhin für einen Mann dieses Alters, sein Leben enden zu wollen mit der Begründung: Erloschen ist der Stern, der einst mir glänzte. Bekanntlich blieb das Episode, eine Anwandlung, aber Petrarca hielt Laura in bestimmter Weise die Treue: er ließ ab von seiner Wünsche wilden Schar und richtete den Blick dorthin, wo er mit Laura noch eine Verbindung erhoffte: Im Himmel such dein Heil und nicht hienieden!

 

(wird fortgesetzt)

 

[1] Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 1979, S. 482.