Ent-Grenzungen


Ent-Grenzungen

 

06.10.2019

 

Von Friedrich Nietzsche stammt jener Aphorismus (125, Der tolle Mensch): „Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?“ (ders., Die fröhliche Wissenschaft, zitiert nach: Friedrich Nietzsche. Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 126f.)

Nietzsches Werk erschien zuerst 1882 und wurde von ihm 1887 ergänzt. Es versammelt rund 400 Aphorismen zu unterschiedlichen Themen und in unterschiedlicher Länge.

 

Wüßten wir nicht um den Autor sowie die Entstehungs-Zeit des Gedankens, so könnte diese Sentenz eine prägnante und pointierte Beschreibung unserer heutigen Umbruchs-Zeit sein. Dachten frühere Philosophen, wie etwa Karl Jaspers (1883-1969), das menschliche Sein als einen „Offenen Horizont“ und das menschliche Werden darin als ein Voranschreiten von  Grenze zu  Grenze, von „Horizont“ zu „Horizont“, so will es heute scheinen, als ob wir uns, Avant-Gardisten gleich, vor jeglicher Grenze bewegen würden. Was aber geschieht einem Menschen, der jeglichen Stand-Ort, der jegliche Dimensionalität und damit ineins jegliche Perspektive verloren hat? Er schwankt, stolpert, stürzt und fällt. Wo-hin? Und dieses Schwanken und Stürzen gilt nicht nur in Bezug auf seine „Außenwelt“, sondern auch bezüglich seines „innersten Innen“, d.h. bzgl. den vielen unterschiedlichen „Ebenen seiner Persönlichkeit“, seiner „Existenz“. Denn es ist existentiell notwendig, die uns umgebende Außenwelt der „Realität“ von der uns tragenden „inneren Wirklichkeit“ abzugrenzen. Für uns meist unbemerkt, und vielleicht nur noch in flüchtigen Momenten des „Vergleichens“ wahrgenommen, müssen wir uns von anderen Personen und Mit-Menschen abgrenzen, müssen das von uns Befürwortete ein– und das von uns Abgelehnte ausgrenzen. Schon um die Rolle, die Funktion, die Illusion unseres „Ichs“ aufrechterhalten zu können, sind wir seit frühester Kindheit gezwungen, „Grenzen“ zu setzen und „Grenzen“ zu ziehen. Doch wie könnte dies gelingen, in einer Grenzen-losen und damit in einer Horizont-losen Zeit? Wie wurden wir zu dem, was wir heute geworden sind: zu Schwankenden, Strauchelnden, Stolpernden, Stürzenden, haltlos Fallenden…—?

Etymologisch hat das Wort „Horizont“ seinen Ursprung im sinnenhaften Sehen (gr. horao) der gegenständlichen Dinge, während das geistige Schauen als Erkenntnis-Vermögen des Menschen sich wohl vom Aoristen eidon (vgl. u.a. „Idee“) ableitet. Welt-Erfahrung und Geistes-Erkenntnis sind folglich wesentlich an den Vorgang des Sehens bzw. Schauens gebunden. Begreifen der Welt und geistiger Begriff haben im Seh-Vermögen des Menschen ihren gemeinsamen Berührungs-Punkt. Was das haptische Erfassen der Hand in Bezug auf Welt-Sein, Welt-Entdeckung, Welt-Erfahrung ist, das ist der Begriff hinsichtlich der geistigen Entitäten. Gesichts-Kreis, Seh-Feld, Horizont-Linie, u.ä.m. beschreiben zunächst Strecken und Flächen innerhalb, also dies-seits, unseres Seh-Vermögens. Während das Wortfeld des Blickes, der Sicht, etc.pp. (z.B. Weitblick, Umsicht, u.a.m.) sich überwiegend auf unser Denk-Vermögen beziehen.

Wenn nun mit Nietzsche der Mensch den „ganzen Horizont weggewischt“ hat, was bleibt dem Menschen dann noch an möglicher „Per-spektive“ (lat. per und specio), an Drauf-Sicht, an Durch-Sicht, an Über-Blick, an Weit-Sicht/Weit-Blick, an Nähe wie auch Ferne…—? Die Mehrdimensionalität seiner Alltags-Erfahrungen kollabiert; seine „polyperspektivische Existenz“ (Karl Jaspers) verlischt. Der Mensch bleibt sich aus, bleibt unterhalb seiner möglichen Existenz, wie dies Karl Jaspers in seinem umfangreichen Werk immer wieder in euen Wendungen beschreibt.

Womit aber ist der menschliche „Schwamm“ getränkt, dass er, der Mensch, der homo creator, nicht nur einzelne geltende Werte „vom Tisch zu wischen“, sondern darüber hinaus ganze Wert-Systeme als horizontale Leit-Linien wegzuwischen, also zu negieren, vermag? Wie macht der Mensch als homo faber das, aus einem „Kosmos“, beruhend auf dem ordnenden „Gesetz des Tages“, eine chaotische „Leidenschaft zur Nacht“ (Jaspers) werden zu lassen…—?

Einige Alltags-Beispiele:

Wohin die Bewegung führt, wenn der ganze Horizont weggewischt  wurde, zeigt sich zum Beispiel in der Politik, wo es nun ein Einfaches ist, objektive Lügen in „persönliche Fakten“ umzudeuten. Trump, Bolsonaro, Boris Johnson und Salvini, aber auch das weite Feld der weltweiten Rechtspopulisten bzw. Rechtsnationalisten bedienen sich dieses „Argumentations“-Musters. Sie lügen sich nicht nur ihre persönlichen  Welt-Anschauungen zusammen — das würde ja unter „persönliche Meinung“ subsumiert werden und damit durch die geltende Meinungs-Freiheit größtenteils gedeckt sein (selbst offenkundiger Rassismus und Volksverhetzung sind ja heute in der täglichen Politik von Trump und AfD „das Maß aller Dinge“) — sondern sie zwingen zudem unter diversen Drohungen alle Anders-Denkenden ihre Welt-Sicht als „wahr“ anzuerkennen, zu respektieren, ja diese als die Allen gemeinsam gültige „Sicht der Dinge“ zu übernehmen. Ent-Grenzung der persönlichen Meinung („Ein Präsident darf alles…“, O-Ton Donald Trump, 04.10.2019), als singuläre, übergriffige, totalitäre Freiheit. Despoten-Freiheit. Diktatoren-Freiheit. Denn innerhalb einer funktionierenden Demokratie  regeln Gesetze die Grenzen des Erlaubten und damit des politisch Korrekten und Machbaren. In der Ent-Grenzung jedoch scheint gleichsam alles Allen erlaubt zu sein.

Zoomen wir im politischen Raum in den individuellen Persönlichkeits-Bereich hinein, so wird Zweierlei sichtbar: erstens, der demokratische Horizont, der auf gemeinsamen Werten und Idealen basierte und noch immer basiert, wird in den heutigen rechtsnationalen Ideologien komplett weggewischt, ausgelöscht und durch einen Horizont der Hetze und des Hasses ersetzt. Ferner geht es hier, zweitens, nun nicht mehr um demokratischen Diskurs und Konsens, sondern um „Niederbrüllen“ anderer Meinungen, es geht um die brutale Gemeinschaft im „Chorgeheule“ und sofortiges Zuschlagen bei und Dreinschlagen auf Andersdenkende. Auch geht es nicht mehr um den Austausch von Argumenten zwischen Menschen, sondern um das gezielte Liquidieren von (Volks-)Feinden. „Volksfeinde“ gelten diesen „wahren Patrioten“ nicht länger als Mit-Menschen, was den Mord an ihnen erleichtert und innerhalb der eigenen Weltanschauung legitimiert (siehe u.a. Causa Walter Lübcke, siehe NSU 2.0, siehe auch Kameradschaften u. Organisationen wie etwa „Revolution Chemnitz“). Letztlich atmen diese Gesinnungen den Geist eines Alfred Rosenberg sowie den „Nürnberger Gesetzen“ vom September 1935.

Weniger brutal in der Tat, jedoch ebenso menschenverachtend in ihrer geistigen Haltung, sind die rechtsnationalen Angriffe auf demokratische Symbole einer pluralistischen Gesellschaft, wie etwa das Fällen der Gedenkeiche für Enver Simsek (erstes Mordopfer des NSU) in Zwickau, 04.10.2019.

Der Mensch, der durch sich hindurchfällt, stürzt ab in Extreme. Er sucht und findet Gleich-Gesinnte als Spießgesellen in den asozialen Netzwerken, die ihm eine für ihn harmonische „Bubble-World“ präsentieren. Es ist jene politische Nacht, die sich die Finsternis gebar…—

 

Wenn der ganze Horizont weggewischt  wurde, dann ist es zum Beispiel in der Wirtschaft ein Einfaches, aus objektiven Betrügereien wirtschaftliches Kapital zu schlagen. So war es bereits bei den Bankenskandalen, den Gammelfleischskandalen, dem „Diesel-Gate“-Skandal, u.v.a.m., um nur die prominentesten Fälle zu benennen.

Zoomen wir im wirtschaftlichen Raum in den individuellen Persönlichkeits-Bereich hinein, so wird sichtbar: je weniger Moral, Gewissen, Redlichkeit, Worttreue, kurz: die einstmaligen Werte eines „ehrbaren Kaufmanns“ gelten, desto höher sind die persönlichen Gewinne (Boni & Tantiemen) im Bereich der Konzern-Vorstände, bei gleichzeitigen Schäden und Verlusten seitens der Verbraucher*innen. Betrug lohnt sich in einer „globalisierten Welt“, in welcher Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden. Bereichs-übergreifend. Ent-Grenzung einer „Wirtschafts-Moral“.

Fortsetzung folgt