Feldpostbriefe, Fortsetzung


Feldpostbriefe

Erzählung, sechster Teil

 

Selbstverständlich zeige ich mich wieder einverstanden mit den Worten des Rektors, obwohl ich beispielsweise seine Äußerung zum Thema „schräge Musik“ für intolerant halte. Heute aktuelle Musikformen wie Foxtrott, Shimmy oder Tango betonen den Rhythmus stärker als die Melodie, was für konservative Ohren anscheinend minderwertig klingt. Allerdings weiß ich, dass der Musikgeschmack der Jungen häufig ebenso einseitig ist wie der des Rektors, nur mit sozusagen umgekehrten Vorzeichen. Oft schon haben mir die Jungen zu verstehen gegeben, dass Erwachsene nur klassische Musik hören. Ich spreche dann von mir und sage ihnen, dass sie falsch lägen. Zwar liebte ich die klassische Musik – Beethoven, Schubert und Mahler – außerordentlich, hörte aber auch „ihre Sachen“ und hätte sogar Schallplatten davon. Außerdem hörte ich auch Renaissance- und Barockmusik. Die Schüler gucken mich dann nur an. Ich merke, dass meine Worte nicht in ihr Weltbild passen.

Aus Verdruss über den Rektor frage ich ihn knapp und direkt:

„Wie lautet Ihr Gegenprogramm?“

Eine Sekunde lang ernte ich einen erstaunten Blick, dann folgt die Antwort:

„Wandern, Spazierengehen, Sport; nicht nur Fußball!“

Ich sehe schon die Gesichter der Jungen vor mir, wenn ihnen der Rektor vorschlägt: Wandern, Spazierengehen, Sport; nicht nur Fußball! – und kann mich einer kritischen Bemerkung nicht enthalten:

„Das wird Überzeugungsarbeit kosten!“

„Ja, aber davor scheue ich mich nicht!“, meint der Rektor.

Er ist verbohrt und zu sehr von sich überzeugt, denke ich. Wer weiß, wie lange er das Rektorat ausübt. Kann man wie er weitermachen über längere Zeit ohne alle Gelassenheit? Andererseits steigt die Ahnung in mir auf, dass man sein muss wie er, um den Alltag zu bestehen. Nicht einer wie ich, der beim Musikhören im Sessel erstarrt und sich ausruhen möchte wie nie zuvor. Mich wundert, dass ich trotzdem mithalten kann und wohl noch keiner etwas gemerkt hat, außer dass der Rektor von mir früher oder später die Priesterweihe erwartet.

„Zum Wandern und Spazierengehen biete ich mich gerne an“, sagt Dr. Freitag.

Der Rektor nickt zufrieden.

„Die Eltern sollen uns grünes Licht geben, dann wird die Sache durchgezogen!“

Wenn die Frau so schön ist, wie es dem Gesichtsausdruck Dr. Freitags gestern Abend anzusehen war, denke ich, ist es nur wahrscheinlich, dass sie in neuer Verbindung steht – vielleicht schon lange; immerhin ist ihr Mann vor mehr als vier Jahren gefallen. In der Mittagspause muss ich die Sportartikel kaufen, aber im Studium lese ich weiter in den Feldpostbriefen. Jetzt sind die Briefe dran, die er geschrieben hat, als er „im Krieg“war.

„Sollen die Eltern bei uns zu Mittag essen?“, frage ich den Rektor.

„Natürlich! Die Küche wird zu tun bekommen. Warum fragen Sie?“

„Wir könnten die Eltern hier im Speisesaal an die Plätze ihrer Kinder setzen.“

„Wahrscheinlich kommen eher beide Elternteile, also nicht nur Vater oder Mutter“, wendet Dr. Freitag sogleich ein, „das gibt ein Platzproblem.“

„Erst mal abwarten, wie viele Eltern sich anmelden“, hält der Rektor dagegen, „dann schauen wir weiter.“

Das gefällt mir wieder. Mergler sieht mich an und sagt:

„Für die Jungen können wir an diesem Tag in den Studiersälen oder in der Aula ‚fliegende Tafeln’ herrichten lassen – das wird schon gehen! Dann brauchen wir noch ein Nachmittagsprogramm. Fällt Ihnen etwas ein?“

Solche Fragen mag ich nicht. Ich komme mir dann vor wie in der Schule. Immerhin antworte ich ohne viel Zögern:

„Hindernisrennen, Bogenschießen, Gabenangeln und weitere ‚Volksbelustigungen’ auf dem Sportplatz könnten wir anbieten.“

Der Rektor nickt zufrieden.

„Treffpunkt wäre zum gemeinsamen Mittagessen im Speisesaal, am besten schon um zwölf Uhr, schließlich die Aussprache in der Aula als wichtigster Tagesordnungspunkt, dann Kaffee und Kuchen wieder im Speisesaal, sodann Ihre ‚Volksbelustigungen’ auf dem Sportplatz“, er schaut mich an, „vielleicht ergänzt mit einem offenen Wettkampf, bei dem unsere neuen Sportgeräte zum Einsatz kommen können …“

„Die ich nach dem Mittagessen kaufen will …“

„Ich frage gleich nach Freiwilligen, die Sie begleiten wollen“, sagt der Rektor, womit er seine kleine Ansprache meint, die er nach jedem Mittagessen im Speisesaal hält.

„Wie weit sind Sie mit dem Theaterstück über den heiligen Alexius?“

„Vielleicht noch einen Monat Probezeit.“

„Das Stück könnte den besinnlichen Ausklang des Elterntages bilden“, überlegt der Rektor, „anschließend verabschieden wir die Eltern um 17 Uhr, damit auch die weiter entfernt wohnenden noch die Abendzüge erreichen, und beim Abendessen sitzen die Jungen wieder an ihren Plätzen im Speisesaal.“

Dr. Freitag und ich nicken mit den Köpfen. Die Hauptmahlzeit ist beendet, wir legen Besteck und Teller zusammen und ziehen die Schälchen mit dem Nachtisch zu uns: Schokoladenpudding mit Vanillesoße. Der Rektor schaut sich prüfend um: Erst wenn er den kleinen Löffel in sein Schälchen mit Schokoladenpudding getaucht hat, dürfen es ihm die Schüler nachtun – vortunist verboten.

„Beim Frühstück sprachen Sie von Programmpunkten für die nächste Zeit“, wende ich mich dem Rektor zu.

„Richtig! … Vor lauter Ärger! … Jetzt sind wir schon beim Nachtisch!“, entgegnet der Rektor. Er sammelt sich kurz und führt aus:

„Ich bin angeschrieben worden wegen unseres alljährlichen Sporttreffens nach den Osterferien mit den Schülern der anderen Heime. Bisher ist die Veranstaltung für unser Haus die Sache einiger weniger geblieben. Das entspricht nicht dem Geist eines echten Sportfestes, das von allen Beteiligten Mühe und Training verlangt.“

„Die Sportbegeisterung bei meinen Sekundanern ist groß. Einige wollen nach dem Vorbild ihrer Klassenkameraden Mitglieder in städtischen Vereinen werden“, sagt Dr. Freitag.

„Das müssen wir ablehnen“, entgegnet der Rektor, „dadurch würde eine zu starke Bindung an den Verein erfolgen, die entsprechende Opfer an Zeit zur Folge hätte und die Heimordnung erheblich stören könnte. Solche Wünsche sollen nicht mehr an uns herangetragen werden. Ich sage es auch gleich noch einmal für alle … – zurück zum Thema: Ich stelle mir gruppenweise Wettkämpfe in verschiedenen Disziplinen vor … Ausscheidungskämpfe, dass unsre Mannschaften diesmal unsre Besten versammeln. Vielleicht kriegen wir so den Wanderpokal …Dann ist da noch … ja, richtig! In diesem Jahr fällt das Patronatsfest unserer Herz Jesu-Kapelle und das des Hauses Sankt Bonifatius zeitlich zusammen. Wir müssen eine Festakademie gründen. Gutes Essen gibt es natürlich auch … Dann hat sich ein Ein-Mann-Bühnenkünstler angeboten, er will das Stück ‚Schneider Wibbel’ geben. Wenn Sie einverstanden sind, lassen wir den Herrn bei uns auftreten.“

Natürlich sind wir einverstanden, ich sogar aus ehrlichem Herzen, für solche Ablenkungen bin ich zu haben.

„Schneider Wibbel?“, fragt Dr. Freitag.

„Ein Volksstück aus der niederrheinischen Landschaft“, erklärt der Rektor, „von Hans Müller-Schlösser. Die Uraufführung fand 1913 in Düsseldorf statt.“

Der Schokoladenpudding mit Vanillesoße ist von den Schälchen in die Mägen am „Herrentisch“ und an den Tischen der Jungen gewandert; bei letzteren ging dies noch schneller vonstatten. Nun warten die Jungen, dass der Rektor die kleine Glocke an seinem Tisch in die Hand nimmt und betätigt – was nach einem kurzen Blick auf Dr. Freitag und mich jetzt geschieht.

Sofort tritt Stille ein.

„Eine ernste Angelegenheit will ich sofort ansprechen“, beginnt der Rektor, „vor den Weihnachtsferien mussten wir zwei Schüler wegen sittlicher Verfehlungen des Hauses verweisen. Nun erfahre ich, dass diese Schüler Stadtquartiere bezogen haben und weiterhin ihre alten Klassen besuchen. Die Verantwortungslosigkeit der Eltern will ich an dieser Stelle nicht kommentieren, allerdings erkläre ich hiermit ausdrücklich, dass es allen Schülern unseres Hauses strengstens verboten ist, diese Schüler in ihren Stadtquartieren zu besuchen. Wir wünschen auch keine Treffen mit diesen Schülern irgendwo in der Stadt an Ausgehtagen. Zuwiderhandlungen haben den sofortigen Ausschluss aus unserem Haus zur Folge.“

Ein Flüstern und Gemurmel erheben sich, was selten geschieht. Noch seltener gibt es ein Handzeichen auf eine mittägliche Ansprache des Rektors. Es ist der Haussenior der Schülerschaft Bernhard F., der sich meldet – und zu meiner Überraschung vom Rektor das Wort erteilt bekommt.

„Es sind ja immer noch – ich weiß jetzt nicht, wie viele – Schüler aus unserem Haus mit den rausgeschmissenen Schülern in einer Klasse. Was ist, wenn die gemeinsam eine Hausaufgabe bekommen? Oder wenn man sich zufällig an Ausgehtagen in der Stadt trifft?“

„Wenn man sich zufällig in der Stadt trifft, geht man sich aus dem Weg. Das ist meine ganz klare Anweisung. Was die Schulaufgaben betrifft, werde ich mit Herrn Direktor Dr. Kozelka sprechen. Sei versichert, dass Herr Dr. Kozelka die Angelegenheit genauso sieht wie ich selbst!“

Bernhard F. nickt nur schwach und sagt nichts mehr.

Ich frage mich, warum uns der Schuldirektor Dr. Kozelka nicht früher darüber informiert hat, dass die relegierten Schüler noch immer ihre alten Klassen besuchen. Andererseits kenne ich die Hektik des Schulalltags, in dem vieles „untergeht“.

Der Rektor fährt fort:

„Mitgliedschaften in städtischen Sportvereinen können wir leider nicht genehmigen, weil dies den geordneten Ablauf im Heim stören würde.“

Wieder erhebt sich Geraune im Speisesaal, dem die Missbilligung deutlich anzumerken ist. Der Rektor fährt mit umso entschiedenerer Stimme fort:

„Ich verbitte mir entsprechende Anfragen! Allerdings soll das Sporttreiben in unserem Haus einen Aufschwung erleben. Nach den Osterferien steht das jährliche Sporttreffen mit den Schülern der anderen Heime an. Noch nie haben wir den Wanderpokal gewonnen. Dieses Jahr soll es anders werden! Ich werde mich dafür einsetzen, dass neben den üblichen Wettbewerben Fußball, Laufen und Weitsprung auch Kugelstoßen und Speerwurf aufgenommen werden. Und bevor du mich jetzt fragst, Bernhard, wie das gehen soll, weil wir im Haus keine Wurfkugeln und Speere haben – das ändert sich mit dem heutigen Tag. Herr Präfekt Framm fährt gleich nach dem Mittagessen mit dem Autobus nach H. in ein Sportgeschäft und holt die Gerätschaften ab: Bälle, Wurfkugeln, Wimpelspeere und …“ Er schaut mich an, sagt dann aber selbst: „Hochsprungständer. Wer begleitet von den Älteren ab Obertertia Herrn Präfekt Framm und hilft ihm beim Tragen?“

Die Auswahl für den Rektor ist groß, er wählt vier Schüler aus. Sie kommen nach dem Gebet und der Postverteilung, die immer der Rektor vornimmt, zu mir. Ich muss aber erst noch meine Botschaft für Bernhard F. loswerden und tippe ihn, der sich im angeregten Gespräch mit einem Unterprimaner befindet und den Speisesaal verlassen will, von hinten an.

„Wegen deiner Frage zur Dosenwurst – gehen wir in eine ruhige Ecke?“

Er nickt und folgt mir.

„Ich habe deine Frage mit dem Rektor und Dr. Freitag besprochen. Leider müssen wir nein sagen. Dosenwurst muss kühl lagern nach dem Öffnen – wie soll das gehen? Außerdem hätten wir Schüler mit und ohne Dosenwurst, das schafft keine gute Atmosphäre. Ich hoffe, du kannst unseren Standpunkt verstehen.“

„Wochenlang die gleiche Konfitüre morgens und beim Kaffee am Nachmittag – viele wollen das ändern.“

„Das begreife ich. Vorläufig kann ich dir aber nur versprechen, dass ich beim Rektor wieder vorstellig werde und dich auf dem Laufenden halte. Ich muss einen günstigen Zeitpunkt erwischen, Du verstehst …“

Er nickt nur wieder, sagt dann aber doch:

„Gut, danke!“

(wird fortgesetzt)