Fluch der Straße, Fortsetzung


Ich bin allein und gehe meinen Weg

Die Straße liegt vor mir und führt in die Weite

Mit schweren Beinen laufe ich

Und lausche den Liedern zwischen meinen Ohren

 

 

Ich habe lange nicht mehr geliebt. Als mein Pflastermaler mich verlassen hatte, war mein endgültiger Rückzug in die Einsamkeit erfolgt. Auf der Straße vereinsamt man sofort, weil der Asphalt nicht mit einem korrespondiert. Jedenfalls nicht wie ein zweiter Mensch. Ich verliebte mich dennoch in meine Freiheit und vielleicht auch in den endlosen Weg, den ich zu gehen hatte.

 

Wenn nur die Schmerzen nicht wären in den Beinen, die mich älter machen, als ich es bin. Vor fünf Jahren bin ich Jasper begegnet, er war ein Trinker, besaß aber eine eigene Wohnung. Dass er trank, konnte ich auch tagsüber riechen. Jasper hockte sich neben mich, als ich am Wegrand der Fußgängerzone saß, wieder einmal mit einem leeren Becher neben mir. Er zog einen Kamm hervor und begann zu blasen und ich merkte, dass sich mehr Leute uns zuwandten, es wurden tatsächlich mehr Münzen in den Becher geworfen. Jasper, er war etwa in meinem Alter, lächelte mich an. Wie ich hatte er kein vollständiges Gebiss, ihm fehlten die oberen Schneidezähne. Seine kurzen, braunen Haare waren angegraut und lichteten sich auf dem Kopf, sein Körper war drahtig, er war schlank. Dass er trank, das roch man nur, aber man sah es ihm nicht an. Als ein paar Münzen im Becher waren, fragte er mich, ob ich ihn begleite. Mir wurde es eng ums Herz, wie oft, wenn ich die Häuser fremder Leute aufsuchte. Er hatte eine kleine Wohnung, sie war dunkel und nur teilweise aufgeräumt, aber ich setzte mich aufs Sofa und wartete ab, was geschah. Er bot mir einen Kaffee an und trank selbst einen Schnaps. Dann schlug er mir vor, bei ihm zu duschen. Ich hatte in der Tat mehrere Tage nicht geduscht, denn es war Sommer und es bestand keine Notwendigkeit, eine Sozialstation oder eine Unterkunft aufzusuchen. Also duschte ich, hinter verschlossener Tür, benutzte sein Handtuch und kehrte mit verstrubbeltem Haar zu Jasper zurück. Er hatte noch irgendeine Salbe, mit der er meine nackten Beine bestrich, die unter dem Handtuch hervorschauten. Seine Hände erregten mich, was mich zugleich erschreckte, denn ich wollte keinen Sex mehr, denn Sex bedeutet frisch gemachte Betten in gepflegten Häusern, in denen man zu bleiben verurteilt ist. Jasper schien etwas zu spüren, denn er zog seine Hände zurück. Ich ging ins Bad und kleidete mich an, schlüpfte in die alten Sachen, die nach Straße rochen. Jasper fragte mich, ob ich ein paar Tage bleiben wolle. Ich schüttelte den Kopf. Es zog mich wieder hinaus und er ließ mich gehen.

 

Manchmal frage ich mich, ob eine Partnerschaft noch einmal denkbar wäre. Ich bin 45, die Straße macht mich älter. Sie ist mein Schicksal und mein Gegenüber. Solange es die Straße gibt, solange gibt es mein Leben. Es ist schön, eine Wohnung zu betreten und unter einer Dusche zu stehen, aber dann zieht es mich hinaus ins nackte Frankfurt mit seinen Straßen und Wegen. Jasper hat vielleicht mehr erhofft, er hat es nie klar gesagt. Wir sind uns noch manchmal in der Stadt begegnet, aber er hat mich nicht noch einmal in seine Wohnung gebeten.

 

Die Straße hat Arme wie eine Schlange. Dabei ist sie geradlinig und scheinbar teilnahmslos. Sie dreht sich nicht um, wenn sie wieder einmal einen Menschen geschluckt hat wie ein Insekt und sich gebärdet wie ein klebriges Band, das die Fliegen und Mücken an sich heranzieht, bis sie kleben bleiben. Die Straße übt einen Sog auf mich aus und ich muss immer wieder zu ihr hin. Ich ziehe über staubige Wege zwischen Häuserzeilen, in denen sich die anderen, die üblichen Menschen verbergen, wenn sie nicht mit ihren Autos fahren oder ihre Kinderwägen über den Gehsteig schieben. Die anderen, das sind die Menschen, die sich ein Leben auf der Straße nicht vorstellen können, die vor mir ausspucken, wenn sie mich nicht ignorieren. Die Straße ist mein Segen und ist mein Fluch. Denn jünger und gesünder werde ich nicht. Die Straße packt mich aber an den Armen und Beinen und zieht mich zu sich hinaus, sie verschluckt mich wie ein Krokodil und eines Tages wird sie mich ganz gefressen haben.

 

An einem Morgen stehe ich nicht mehr auf. Ich habe in einer Einkaufspassage geschlafen, auf einer alten Decke, die ich in den letzten Wochen mit mir herumgetragen habe. Meine Beine schmerzen, sie wollen nicht mehr. Die Uhr bewegt sich vorwärts, Ladentüren werden mit einem Knirschen entriegelt, die ersten Kunden drängen in die noch leeren Geschäfte. Sie drängen an mir vorbei, manche werfen einen Blick in meine Ecke, um sich gleich umzudrehen, von mir weg. Meine Beine sind offen, Eiter rinnt aus den Wunden. Ich weiß, ich bin am Ende, und weiter geht es nicht. Nach Stunden, die Stadt ist inzwischen menschenerfüllt, sieht mich ein Bekannter, Jorin, den ich aus einer Odachlosenunterkunft kenne und der eine Querflöte bei sich hat, die er auf der Zeil manchmal spielt. Er will an mir vorbeigehen, im Strom mitschwimmen, aber mit schwacher Stimme rufe ich ihn. Er dreht sich um und kommt auf mich zu. Ich versuche mich zu erheben, bin aber zu schwach. Da beugt er sich zu mir und fragt: „Was ist los?“ und ich sage, dass ich nicht mehr aufstehen kann. „Warte“, entgegnet er, „Ich hole Hilfe“. Dann verschwindet er und ich lasse den Kopf zurücksinken. Nach einiger Zeit kommt ein Sanitäter mit einem Koffer. Er befühlt meine Beine und sagt, dass es schlimm aussehe. Vorsichtig hebt er mich auf, ich klammere mich an ihm fest. Ein Krankenwagen ist in den Fußgängerbereich gefahren. Ich werde auf eine Trage gelegt und in ein Krankenhaus gebracht. Meine Beine werden gesalbt und verbunden. Nun habe ich ein richtiges Bett, in dem ich liegen kann, auch wenn es nur für ein paar Tage ist. Am ersten Tag spüre ich so etwas wie Geborgenheit, trotz der kargen Atmosphäre. Aber am nächsten Morgen schon ist mir nicht mehr geheuer, ich beobachte die Schwestern und Ärzte, wenn ich sie zu Gesicht bekomme, und das ist selten.

Eine Woche soll ich bleiben, eine Woche, in der meine Beine behandelt und frisch verbunden werden und in der es mittags ein warmes Essen gibt. Aber schon am dritten Tag habe ich keine Ruhe mehr. Ein Sozialarbeiter kommt, wieder wird mir ein Platz in einem Frauenwohnheim angeboten. „Morgen komme ich wieder, dann unterschreiben wir den Aufnahmeantrag“, sagt er zu mir. Ich lasse ihn gehen. Als mein Krankenzimmer leer ist und ich mich unbeobachtet weiß, suche ich nach meinem Bündel und verlasse den Raum. Ich schleiche durchs Krankenhaus, bis ich wieder im Freien bin. Noch ist es Sommer, noch kann ich aufstehen. Die Straße hat mich wieder.