Kreatives Schreiben und Literaturproduktion


Kreatives Schreiben und Literaturproduktion

Susanne Konrad im Gespräch mit Phyllis Kiehl

 

Ist es möglich, in Schreibwerkstätten und –seminaren Literatur zu erschaffen? Auch wenn man mit dieser Hoffnung an einem solchen Workshop teilnimmt, entstehen dort oftmals Texte von nur kurzer Halbwertszeit. Woran liegt das? Gibt es einen generellen Unterschied zwischen kreativem und literarischem Schreiben? Oder fehlt nur ein kleiner methodischer Trick, damit in Schreibwerkstätten Literatur entsteht? In einem Fachgespräch habe ich mich mit der renommierten Schreibtrainerin Phyllis Kiehl zu diesem Thema ausgetauscht.

 

 

„Kreatives Schreiben“ ist noch keine Literaturproduktion

 

In Schreibgruppen und –seminaren wird vieles geschrieben, doch nur wenige Texte schaffen es, den Situationszusammenhang zu verlassen und ein Eigenleben zu beginnen.

Was geschieht beim Schreiben in der Gruppe? Angeregt durch einen Impuls lässt man dem Ideenstrom freien Lauf und lässt sich überraschen, was dabei herauskommt. Das Ergebnis ist aber in der Regel keine Literatur. Nach dem Schreiben, noch ganz erwärmt vom kreativen Erlebnis, liest man das unfertige Produkt den anderen vor und bekommt eine meist wohlwollende Rückmeldung, hinter der sich Gleichgültigkeit verbirgt. Viel wichtiger ist dem anderen Teilnehmer nämlich sein eigenes Elaborat, das er selbst gerade frisch geschrieben hat.

So kann man es betrachten, wenn man einen negativen Blick auf Schreibwerkstätten wirft.

In Seminaren, die ich geleitet habe, machte ich folgende Beobachtung: Die von mir selbst und von anderen geschriebenen Texte entfalteten ihre Wirkung im Kontext des Workshops. Jenseits davon erschienen sie mir kraftlos und blass.

Daraus folgere ich: Die Texte sind kontextbezogen entstanden und funktionieren auch in ihrem Entstehungszusammenhang. Herausgerissen sind sie wertlos. Literarische Texte aber tragen ihren Kontext in sich selbst.

Auf unsichtbare Weise muss der Autor den Kontext zu seinem Text ebenfalls erschaffen – egal, wo er sich aufhält.

 

Macht es dann überhaupt Sinn, in Workshops zu schreiben? Mit dieser skeptischen Haltung besuchte ich die Schreibtrainerin Phyllis Kiehl und wurde mit einer ausgesprochen positiven Einstellung zum kreativen Schreiben konfrontiert. Meinen ganzen Zweifeln zum Trotz hat Kiehl die Meinung, dass alle „kreativ“ entstandenen Texte das Potential haben, zu Literatur zu werden, wenn man nur hart genug an ihnen arbeitet.

 

 

Vom kreativen Schreiben zum literarischen Text – Fragen an Phyllis Kiehl

 

Phyllis Kiehl ist eine vielseitige Künstlerin. Ich habe sie als Schreibcoach im Rahmen eines Projektes des Historischen Museums Frankfurt kennengelernt, an dem ich mit anderen Autoren beteiligt bin. Kiehl studierte an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach und arbeitet heute abwechselnd in Paris und Frankfurt am Main als Malerin, Grafikerin und Schriftstellerin. Ihre Medien sind Text, Zeichnung, Fotografie und Skulptur/Installation. Sie hat Prosa in renommierten Verlagen veröffentlicht und leitet Schreibwerkstätten für Stiftungen und andere anerkannte Träger.

Das Zusammentreffen verschiedener Kunstgattungen in Kiehls Schaffen macht ihre Schreibwerkstätten zu etwas Besonderem. Sie sei eine „bildende Künstlerin“ und keine „Literaturwissenschaftlerin“, sagt sie über sich selbst. Mit Bildern zu arbeiten, ist für ihre Workshops essenziell. Sie zeigt ihren Teilnehmern, wie sie selbst in ihrem Innern Bilder entstehen lassen und diesen eine sprachliche Form geben können. Es geht nicht um eine abstrakte Reflexion über Literatur, sondern um die lebendige Verbindung von Bild und Sprache. So ergänzen sich die verschiedenen Schaffensebenen zwischen Expression und Reflexion.

 

  1. Wie bist du dazu gekommen, Schreibseminare anzubieten?

 

„Ich habe mit gegenständlichen Zeichnungen begonnen. Diese Bilder verlockten mich, Geschichten dazu zu schreiben. Dann wurde ich von der Stadt Frankfurt angefragt, Schreibworkshops für junge Frauen mit Migrationshintergrund zu entwickeln. Damals stellte sich für die Teilnehmerinnen vor allem folgende Frage: Welche Werkzeuge habe ich, um mich auszudrücken?“

 

  1. Was macht dir daran besondere Freude?

 

„Besonders gern denke ich mir Schreibanregungen aus und gestalte den gruppendynamischen Prozess. Der Entwurf des Kurses und seine Umsetzung ist auch ein schöpferischer Akt. Die Interaktion, die einzelnen Teilnehmer, die gruppendynamischen Prozesse, spannende Begegnungen – alles gehört dazu. Es ist mir eine große Freude, andere Menschen stark zu machen.“

 

  1. Kannst du zwischen verschiedenen Arten/Ebenen von Schreibwerkstätten unterscheiden?

 

„Ja, abhängig von den Zielgruppen arbeite ich auf verschiedenen Levels. Wenn ich mit jungen Migranten oder Geflüchteten arbeite, geht es vor allem darum, ihre Sinne für ihre Ausdruckswerkzeuge zu stärken. Habe ich professionelle Autoren vor mir, kann ich auf einer fachlichen Ebene auf sie eingehen. Sie differenzieren stärker zwischen ihrem Text und sich selbst und fühlen sich nicht so direkt auf der persönlichen Ebene angesprochen.“

 

  1. Was erwarten deine Teilnehmer*innen von deinen Workshops?

Was erwarten sie von dir?

 

„Sie wollen in erster Linie Spaß haben, sie wollen die Freude am Schreiben spüren. Sie möchten ernstgenommen werden, möchten sich in einer Situation befinden, in der ihre Arbeit mit Respekt behandelt wird. Die wenigsten kommen mit der Absicht, mit einem literarischen Werk in der Tasche nach Hause zu gehen. (Lacht) Es ist ein Ego-Boosting, ein Push, den die Leute bekommen.“

 

  1. Welche Methoden wendest du für welche Zielgruppen an?

 

„Meine Methoden verändern sich nicht nach der Zielgruppe, nur der Anspruch, wie weit man geht. Dazu gehört die Gesprächsführung beim Vorlesen. Ich habe eine große Palette von Schreibanregungen. Wenn die Leute mir noch fremd sind, setze ich Sie intuitiv ein. Am zweiten Kurstag kann ich die Schreibanregungen schon passgenau auf die Gruppe zuschneiden.  Deshalb mag ich Kurse, die über eine längere Zeit laufen lieber als Ein-Tages-Seminare, wo man nicht die Chance bekommt, die Teilnehmer besser kennenzulernen. Aber alle spüren, dass ich meine Arbeit liebe. Diese Haltung wirkt ansteckend – und für mich bedeutet das Leiten von Schreibworkshops einen guten Kontrast zur ruhigen Arbeit am Schreibtisch.“

 

  1. Sind in deinen Schreibwerkstätten bereits literarische Texte entstanden?

 

„Ja. (Phyllis Kiehl lächelt und zwinkert.) Wenn mehrere glückliche Umstände zusammentreffen, dann kann das klappen.“

 

 

  1. Welches sind deiner Meinung nach Merkmale eines literarischen Textes?

 

„Der Text muss Entschiedenheit signalisieren, muss in sich formal stimmig sein. Sprachlich muss er überzeugen, im Bestfall überraschen. Der Gestaltungswille des Verfassers muss spürbar sein. Ich muss Lust bekommen, den Text zu überarbeiten, muss das Potenzial spüren. Der Text sollte eine Eigenständigkeit zeigen, die über die Entstehungssituation hinausgeht.“

 

  1. Ist ein (im Schreibseminar entstandener) gelungener Text bereits ein literarischer?

 

„Ich setze ‚gelungene‘ Texte durchaus mit ‚literarisch‘ gleich. Aber wer will die Messlatte definieren? Erst einmal sollte der Autor seinen eigenen Maßstab setzen. Er fragt: Ist mein Text gut? Er fragt nicht gleich: Ist mein Text Kunst? Gelungene Texte können sich von der Situation frei machen. Sie zeigen Wirkung innerhalb und außerhalb des Schutzraums der Seminarsituation.“

 

  1. Wie definierst du den Unterschied zwischen kreativem und literarischem Schreiben?

 

„Oh, diesen Unterschied sehe ich in der Methode. ‚Kreatives Schreiben‘ ist eine Reaktion auf eine Anregung. Daraus entstehen Texte, aus denen wiederum Literatur werden kann – zuerst aber wird das Material generiert. ‚Literarisches Schreiben‘ hingegen erfolgt meist zu Hause. Der Autor hat von vornherein den Anspruch, seinem Text eine Form zu geben.“

 

Phyllis Kiehl gibt zu bedenken, dass auch bei den Versuchen, zu Hause in aller Stille Literatur zu produzieren, oftmals Texte von „kurzer Halbwertzeit“ entstehen. Der Schreibworkshop hat da die Aufgabe, auflockernd und anregend zu wirken. Greift er in die Schreibroutine einer Person ein, die sowieso schreibt, kann er faszinierende Impulse vermitteln. Der Schreibende verlässt seine eingefahrene Schiene. Zudem hat er die anderen in der Gruppe als Test-Rezipienten und spürt die unmittelbare Wirkung seiner Worte. So kann der Workshop als kreative Auszeit aus dem Schaffensprozess erlebt werden. Der Autor hat oftmals gar nicht den Anspruch, im Seminar Literatur zu erschaffen, sondern gibt sich gleichsam den Lockerungsübungen hin, was ihm ermöglicht, festgefahrene Schaffensprozesse aufzumischen.

Den Workshops, so Phyllis Kiehl, sollten allerdings Coachings folgen: Der Text ist ernst zu nehmen. Damit aus dem Entwurf Literatur werden kann, ist oftmals Überarbeitung nötig, die ein Lektor leistet. Außerdem sollte ein aus dem Kurszusammenhang gerissener Text nicht liegen bleiben. Der Autor sollte ihn in ein Projekt einbetten (zum Beispiel in eine Erzählungensammlung) oder ihn anderweitig sichtbar machen (zum Beispiel in einem Blog). Es macht zwar Arbeit, sagt Phyllis Kiehl, aber mit individuellen Coachings kann man halbfertige Workshop-Produktionen  erfolgreich zu literarischen Werken weiterentwickeln.

 

Informationen zu Phyllis Kiehl bietet die Website www.taintedtalents.twoday.net

Kontakt: kiehl@psi-text.de

 

Susanne Konrad

www.susanne-konrad.de