TUNNEL DES LEBENS


Auszug aus: Thomas Berger, TUNNEL DES LEBENS. Das säkulare Gewand eines theologischen Denkmodells, 2018

Der 1990 in Neuchâtel verstorbene schweizerische Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt (geboren 1921) hinterließ ein breit gefächertes Werk: Theaterstücke, Hörspiele, Romane, Erzählungen und Essays.

Vor allem einer seiner Texte ist mir in lebhafter Erinnerung geblieben: die Erzählung  Der Tunnel. Sie erschien erstmals 1952, in der bearbeiteten Fassung 1978. Steigen wir in einen Eisenbahnzug nach Zürich, wie es der vierundzwanzigjährige Student der Geschichte an einem Sonntagnachmittag tut. Lassen wir nun etwa zwanzig Minuten Fahrtzeit vergehen, wobei wir uns dessen erfreuen, was zwischen Alpen und Jura vom Fenster aus zu betrachten ist. Nach Verstreichen dieser Frist fährt unser voll besetzter Zug gleich nach Burgdorf im Kanton Bern in einen Tunnel. Bis jetzt verläuft alles ohne Besonderheiten. Doch rasch bildet sich ein merkwürdiger Eindruck: Die Durchfahrt, normalerweise so kurz, dass nicht einmal Licht eingeschaltet wird, dauert und dauert. Eben leuchtete noch die Sonne, nun herrscht ungewöhnlich lange währende Finsternis. Das Auftauchen der natürlichen Helle am Tunnelende bleibt aus, Glühbirnen leuchten mittlerweile. Wir – und der junge Mann − werden unruhig. Die Mitreisenden hingegen zeigen keinerlei Anzeichen von Irritation, was zu unserer Überraschung auch von dem Schaffner gilt. Besorgt kämpfen wir uns durch die Menschenmenge, um den Zugführer zu sprechen. Dieser gibt allerdings lediglich zu, dass der Tunnel nicht aufhört; ansonsten bringt er wenig Verständnis für unser Missbehagen auf und heißt uns, mit in den Maschinenraum zu gehen. Dort angelangt, erklärt er, er wisse nicht, warum er uns habe mitgehen lassen, er habe sich nur ein wenig Zeit für Überlegungen schaffen wollen. Die Zeiger auf unserer Uhr rücken immer weiter. Längst hätten wir in Olten sein müssen. Stattdessen rasen wir noch immer mit Getöse durch den dunklen Tunnel. Da bemerken wir zusammen mit dem Zugführer, dass der Führerstand leer ist. Die Betätigung an sich geeigneter Hebel bringt die Maschine nicht zum Stehen. Im Gegenteil: Die Geschwindigkeit des Zuges nimmt immer weiter zu. Und als wäre alles noch nicht schlimm genug, erfahren wir, dass der Lokomotivführer und ebenso der Mann vom Packraum schon vor geraumer Zeit abgesprungen seien. Er selbst, sagt der Zugführer, sei geblieben, da er Hoffnung nie gekannt habe. Ab hier variieren die beiden Fassungen der Erzählung.

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