Toleranz bei Gotthold Ephraim Lessing – Ein Problemfall


 

AUSZUG aus dem Essay von Thomas Berger:
Toleranz bei Gotthold Ephraim Lessing – Ein Problemfall

 

Zur Entstehungsgeschichte des Dramas Nathan der Weise

 

Wer klären möchte, was Toleranz ist, und deshalb die Geschichte der Interpretation dieses Begriffes betrachtet, wird unweigerlich auf GottholdEphraim Lessing (1729  ̶ 1781) stoßen.

Der Schriftsteller und Kritiker entwickelte in seinem 1779 erschienenen Drama Nathan der Weiseeine Toleranzbotschaft, die zum Kernbestand der deutschen Aufklärung zählt und bis in unsere Zeit Bewunderung erregt und wegen ihrer vermeintlichen Aktualität gerne gerühmt wird, obgleich der von Martin Luther(1483 ̶ 1546) im Jahre 1541 eingeführte Begriff Toleranz im Stück selbst nicht auftaucht. Zeitgeschichtlich stellt das Werk, auf das ich mich hier in der Frage der Toleranz bei Lessing wegen seiner wirkungsgeschichtlichen Bedeutsamkeit beschränke, eine Auseinandersetzung mit der protestantischen Orthodoxie auf der Ebene des Theaters dar. Lessing, Bibliothekar in der Herzog August Bibliothek im braunschweigischen Wolfenbüttel, hatte zuvor Partien aus der Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes herausgegeben. Deren Verfasser, der Gymnasialprofessor Hermann Samuel Reimarus (1694  ̶ 1768), hatte die Bibel und die dogmatischen Grundsätze des Christentums einer rationalistischen Kritik unterzogen. Lessings publizistischer Wagemut rief damals heftige Kritik hervor, insbesondere des Hamburger Hauptpastors Johann Melchior Goeze (1717 − 1786) und löste den berühmten theologisch-politischen „Fragmentenstreit“ aus. Nach einem Machtwort des Herzogs Karl I. wechselte Lessing auf die Bühne, um dort mit dem Nathanseine aufklärerischen Gedanken gegen das Goeze-Lager zu verbreiten − mithin ein aus der Not geborenes Unterfangen, dem eine gewisse Spannung zwischen der ausgeprägt logischen Argumentation und subtilen Reflexion des Weisen auf der einen und der Bühneneignung auf der anderen Seite innewohnt.

 

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