Unbeschreiblicher Jubel!


Unbeschreiblicher Jubel!

Erzählung, Teil 2

 

Bevor ich die Frage selbstverständlich bejahen wollte, stürmten zehn oder mehr Mitschüler, die gerade von der Schule gekommen waren und noch ihre Mappen im Arm hielten, die Treppe hoch. Sie liefen geradewegs zu den Zeitungskästen. Als sie den Prä sahen, riefen sie:

„Herr Präfekt, haben Sie schon gehört? Es ist Krieg, endlich Krieg! Wir werden siegen, gegen Franzosen, Russen, Briten!“

„Mit Großbritannien steht Deutschland noch nicht im Krieg!“, wandte der Prä ein.

Noch nicht, Herr Präfekt! Noch nicht!“, rief ein Schüler, „aber zweifeln Sie daran, dass es so kommen wird?“

„Na, wir werden sehen!“, gab der Prä knapp zur Antwort, übrigens in einer Weise, die offen ließ, ob er für oder gegen den Krieg war. Auch dass die Frage des Schülers – er hieß übrigens wie ich mit Vornamen Ludwig; Ludwig Singer – im Tonfall und Inhalt ungehörig war, nur zu erklären mit der einmaligen historischen Situation, in der wir uns wähnten, überging der Prä.

Jeder einzelne Augenblick unseres Lebens ist eine einmalige historische Situation, weil er – soviel wir zu wissen glauben – niemals wiederkehrt. Aber an jenem dritten August 1914 im Schülerheim in B. hielten wir uns für auserkoren durch die Göttin der Geschichte. Viele von uns Schülern waren Todgeweihte, zum Sterben gezwungen für fremde, geistfeindliche Ziele, wie es sich im Laufe der viereinhalb Kriegsjahre herausstellen sollte, aber damals, Anfang August 1914, hielten wir uns als vom Glück begünstigt in außerordentlichem Maß.

Der Prä verließ uns und ging in Richtung seiner kleinen Wohnung, die sich im ersten Obergeschoss auf der Westseite des Schülerheims befand. Ich sah ihm nach. Mit seinen Fragen hatte er mich verwirrt und beinahe empört, aber meine Verwirrung speiste sich auch daraus, dass er besonders freundlich zu mir gewesen war und mir offensichtlich nur Gutes wollte. In dieser Gefühlslage hörte ich zu, was die Kameraden sich zuflüsterten über den Prä. Sie betrachteten mich als einen der ihren und sprachen unbekümmert ob meiner Zeugenschaft. Gehörte ich nicht auch tatsächlich zu ihnen? Oder war ich durch die kleine Zuwendung, die mir der Prä soeben hatte zukommen lassen, schon wankend geworden?

„Wisst ihr, was ich glaube?“, fragte Willibald Zöllner in die Runde. Er setzte eine überlegene Miene auf und sah sich jeden einzelnen der Kameraden an, einschließlich meiner, der ich seinen Blick erschrocken erwiderte. Vielleicht hafteten deshalb seine Augen auf mir, als er verkündete:

„Der Prä ist ein Franzosenfreund!“

Zustimmend-empörtes Geraune erfüllte die Runde. Franz Gutmann rief: „Noch vor kurzem hat er seine Franzosenfahne ans Fenster gehängt!“

„Ja, am Nationalfeiertag des Franzmanns!“, bestätigte Ferdinand Rucker.

„Das ist grade mal drei Wochen her!“, schimpfte Franz Otto.

„Weniger!“, korrigierte Anton Kipper, „am 14. Juli war’s!“

„Eine Schande ist es!“, stellte Ludwig Senger fest. Im Unterschied zu allen anderen sprach er nicht mit rasch-empörtem Eifer, sondern mit ruhig-kalter Berechnung.

Alle schauten ihn an. Die Frage, was soll geschehen? lag in ihren Blicken. Ludwig Senger hielt die Blicke fest, antwortete ihnen stumm, und nach einer Weile äußerte er nur:

„Abwarten, Leute! Ihr werdet euch wundern!“

Dann klingelte es zum Mittagessen, besser gesagt zur Vorbereitung zum Mittagessen, denn das Klingelzeichen hieß zuerst einmal, zum Waschraum zu gehen, der sich ein Stockwerk höher im Schlafsaalgang befand, und sich die Hände zu waschen. Schweigend erstiegen wir steinerne Stufen. Ich begriff: Es war etwas Neues geschehen, nicht nur draußen in der Welt, in Berlin, Paris, London oder Sankt Petersburg, sondern auch bei uns im Schülerheim. Die Ereignisse der „großen Politik“ – hatten sie nicht schlagartig die Stimmung unter uns Schülern verändert? War es nicht überall zu spüren – förmlich zu riechen? Und spürte ich es nicht vor allem an mir selbst? Jetzt zum Beispiel, beim Stufenersteigen mit den Kameraden – nahm ich sie nicht anders wahr, als früher? Dieses „Früher“ lag nicht lange zurück, eigentlich nur ein paar Tage, als erste Gerüchte aufkamen, es könnte zum Krieg kommen – zu einem großen Krieg in Europa, nicht mehr nur auf dem Balkan zwischen Serbien und Österreich-Ungarn. Als am 28. Juni der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie in Sarajewo erschossen worden waren, kam eine gewisse Spannung auf, was Österreich-Ungarn machen würde mit den Serben, und wie sich dann die Russen verhalten würden als Schutzmacht Serbiens, aber diese Spannung war auch wieder etwas abgeflaut im Verlauf von zwei, drei Wochen. Unser Lehrer in der Schule hatte gesagt, dass nun die Stunde der Diplomatie gekommen sei, in unseren modernen Zeiten würde sie schon die Oberhand gewinnen gegen alle, die lieber die Waffen sprechen lassen würden. Das hatten wir in der Klasse zur Kenntnis genommen; ich weiß gar nicht, ob ich vereinzelt in enttäuschte Gesichter gesehen habe, dass der „Große Knall“ ausbleiben und alles beim Alten bleiben würde: In die Schule gehen und lernen, Vokabeln pauken und Klassenarbeiten schreiben. Das hielten wir für die Tristesse unseres Lebens. In Wahrheit war es das Glück. Den Krieg – am besten gleich den in Europa, nicht mehr nur auf dem Balkan zwischen Serbien und Österreich-Ungarn, hielten wir für das Glück. In Wahrheit war es das Unglück, auch für diejenigen, die den Krieg überlebten. Ich war zu jung, „um mit zu streiten für das Vaterland“ oder welche Phrasen wir damals hörten aus den Mündern der Erwachsenen und bald selbst gebrauchten, aber ich war alt genug, um zu beobachten, was um mich herum geschah. Schließlich musste ich mich entscheiden, zu welcher Seite ich gehören wollte: zur Mehrheit der Kriegsbefürworter oder zur Minderheit der Kriegsgegner.

Beim Treppenersteigen mit den Kameraden des Schülerheims, die alle älter waren als ich, hielt meine Verwirrung an. Bewundert hatte ich die Kameraden bisher aus ganz unterschiedlichen Gründen: Willibald Zöllner war seit mehr als einem Jahr unser „Haussenior“; er verhandelte mit dem Rektor und dem Prä über unsere Wünsche, teilte uns aber auch gelegentlich mit, was die beiden Erzieher für notwendig hielten und worauf er uns einzustimmen hatte. Den Prä hatte er mit seinem Verhandlungsgeschick beeindruckt. Er hätte es ihm nicht zugetraut gehabt, war Willibald Zöllners Können früher doch vor allem nur auf dem Sportplatz aufgefallen.

Fünfzig Jahre später kam mir durch Zufall ein feines Blatt Papier in die Hände, auf dem der Prä Verse der Anerkennung für unseren „Haussenior“ geschrieben hatte:

 

„Haussenior ist im Konvikt

Willi Zöllner, sehr geschickt

weiß er zwischen den Gewalten

stets das Gleichgewicht zu halten.

Einst nur Sportler von Format,

wirkt er nun als Diplomat!

Fluch im Kreise der Lektoren

wirkt er wie dazu geboren,

und die Zeit des ‚Sturm und Drang’

er in seinem Amt bezwang.“