Abseits ist Rettung


Abseits ist Rettung

Über Thomas Bergers Roman „Der fremde Archivar“, erschienen 2022 im Verlag edition federleicht, Fuldatal. ISBN: 978-3-946112-80-8, 283 Seiten.

 

Der Protagonist Achim in Thomas Bergers Roman „Der fremde Archivar“ ist ein ausgeprägter Individualist. Er verschmäht es wie weiland Arthur Schopenhauer zu heiraten, weil er nicht seine Rechte halbieren und seine Pflichten verdoppeln will. Dabei ist er den Frauen gegenüber keineswegs abgeneigt. Von kurzen Liaisons Achims erfahren wir; diese Begegnungen streuen sich durch die verschiedenen Stadien von Achims Leben. Wenn jedoch eine dauerhafte Beziehung am Horizont des Paares auftaucht, schreckt Achim zurück und beendet lieber das Verhältnis, als dass er sich juristische, finanzielle und emotionale Verpflichtungen auferlegen ließe. Da hilft es auch nicht, wenn die Noch- oder besser gesagt: Nicht-mehr-Geliebte weinend und verzweifelt nach dem Grund für die Aufkündigung der Beziehung durch Achim fragt. Achim äußert sich nur dahingehend, dass sie beide einfach nicht zusammenpassten; in Wirklichkeit ist er geprägt von tiefer Skepsis. Er glaubt zu wissen, dass die Beziehung abkühlen wird, dass irgendwann nur noch der Nutzen, den sich beide Partner voneinander versprechen, als Kitt der ehelichen Gemeinschaft oder Dauerbeziehung gilt. Er rechnet vor, dass Frauen nicht selten über den Eintritt des Mannes in den Ruhestand heimlich hadern, weil der Mann von nun an den ganzen Tag in der Wohnung verbringt und die Frau den wohltuenden Abstand früherer Tage betrauert. Liebt Achim niemand als sich selbst? Ja und nein. Einerseits hält er den Egoismus für natürlich; jedem Lebewesen eigen. Andererseits gibt es auch in seinem Leben die große Liebe. Sie heißt Ulrike, nur von ihm vertraulich Rike genannt, und ist – seine Schwester. Mit ihr erlebt er von Kindesbeinen an eine seelische Vertrautheit, die er später bei keiner anderen Frau empfindet. Als Ulrike bei einem Autounfall tödlich verletzt wird, ist Achim – mittlerweile siebzig Jahre alt – ergriffen wie nie zuvor. Wie ein roter Faden durchzieht den Roman das Motiv des Sich-Fallen-Lassens. Überraschenderweise endet das Buch anders: Der Schwester zu gedenken, wünscht sich die Hauptfigur mit einem Mal wieder viele weitere Jahre Leben. Vorher war Achim schon in laue Resignation verfallen und fragte sich, wie viel Zeit ihm noch bleibe und ob er nicht einen Gutteil seines persönlichen Hab und Guts abstoßen solle.

Beispiele für die Spielarten von Achims Individualismus beschreibt der Er-Erzähler auf mehreren Ebenen sozialer Interaktion. In der Familie sondert sich das Kind und der Jugendliche nach dem frühen Tod des Vaters von der psychisch labilen Mutter und den Brüdern ab. In den Berufsjahren erscheint er dem Kollegium als pflichteifrig und korrekt, wenn auch distanziert. Pflichteifer und Korrektheit übt Achim jedoch nur deshalb, weil er so wenig wie möglich Nachfragen zu seiner Arbeit erhalten und nach getanem Tagewerk wieder ganz für sich sein will. Im Mehrfamilienhaus, in dem Achim lebt, kennt er die Mitbewohner nur von zufälligen Begegnungen im Treppenhaus und von Geräuschen, die sie bei ihren routinemäßigen Verrichtungen in den Nachbarwohnungen verursachen. Wenn es möglich ist, meidet Achim Begegnungen im Treppenhaus; und wenn er dafür wieder zurück in seine Wohnung verschwindet und die Tür hinter sich schließt. Ist Achim menschenscheu? Ja, aber er ist kein Misanthrop. Er braucht Menschen um sich, allerdings in sicherem Abstand, dass seine persönliche Unabhängigkeit jederzeit gewährleistet bleibt. Ganz allein zu wohnen, wäre nicht in seinem Sinn, es würde ihm wegen seines Hangs zur Ängstlichkeit sogar zuwider sein. Achim genießt es, morgens zu festgesetzter Zeit die laute Kaffeemaschine in der Nachbarwohnung zu vernehmen oder einen anderen Nachbarn abends mit der immer gleichen Begrüßungsformel in die Wohnung zu dessen Frau treten zu hören. Diese Art sozialer Eingebundenheit genügt ihm, um sich sicher zu fühlen und seinen Neigungen zu frönen.

Der Archivar aus Profession ist auch einer der privaten Leidenschaft. Beruflich hantiert er mit Dokumenten vergangener Epochen und veröffentlicht Fachliteratur, privat ist er Besitzer eines Naturalienkabinetts und verbringt viele Stunden an seinen Glasvitrinen mit Exponaten, beispielsweise aus der limakologischen (Schneckenkunde betreffend), oologischen (Vogeleierkunde betreffend) oder arachnologischen Abteilung (Spinnentiere betreffend). Auch zur belebten Natur fühlt er sich hingezogen. Nach der Computerarbeit ist er bei seinen Streifzügen unter freiem Himmel ein feinsinniger Beobachter von Flora und Fauna sowie von meteorologischen Zuständen.

Der Roman stellt, ausgehend von der Lebensführung Achims, grundsätzliche Fragen zum menschlichen Dasein. Es sind Fragen, mit denen Ernst Bloch (1885-1977) sein Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ einleitet: „Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?“ (Frankfurt am Main, 1979, S. 1) Zweifelnd gegenüber ewigen Werten, wie sie in der Liebe und in der Religion apostrophiert werden, hat sich Achim dem Augenblick verschrieben – im Wissen und in der Hinnahme von dessen Flüchtigkeit. Gleichwohl sucht er von Zeit zu Zeit Klöster auf und unterwirft sich der auf Gott zielenden Tagesordnung und der Einfachheit monastischen Lebens.

In unserer gleichmäßig ausgerichteten (digitalen) Welt stellt Achim einen wohltuenden Gegenpol dar, einen Outsider, Steppenwolf und – meinetwegen – zuweilen kauzigen Einzelgänger. Der Rezensent bekennt gerne, dass er den Aufbau des Romans bei der Lektüre als vollkommen harmonisch empfand – ohne die Struktur, die in den drei Einheiten Ort, Zeit und Handlung springt, ganz durchschaut zu haben. Nicht nur dieser Aspekt verleitet zu nochmaliger Lektüre des Buches. Es gehört zu den Höhepunkten im reichhaltigen lyrischen, erzählerischen und essayistischen Werk des Schriftstellers Thomas Berger.  

 

Johannes Chwalek