Der fremde Archivar


 

 

Auszug aus dem soeben erschienenen Roman
Der fremde Archivar von Thomas Berger
edition federleicht, ISBN 978-3-946112-80-8, 292 Seiten

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Am Nachmittag klingelte es. Der zweimal kurz hintereinander erfolgte Ton zeigte ihm, dass es Lisa war. Er legte den Zeitungsartikel, den er seiner Mappe mit der Aufschrift Lesenswertes entnommen hatte, beiseite. Der Bericht handelte von einem Fund, der vor einiger Zeit in Cambridge in der Houghton Library der Universität Harvard gemacht wurde. Wissenschaftliche Tests hatten bestätigt, dass die Bibliothek, im ältesten Teil des Campus gelegen, ein Buch besitzt, dessen Einband aus menschlicher Oberhaut besteht. Der Band über die Bestimmungen der Seele trägt den Titel Des destinées de l’âme. Er stammt von dem französischen Schriftsteller Arsène Houssaye, der im neunzehnten Jahrhundert lebte. Der Autor schenkte es wohl seinem Freund, dem bibliophilen Arzt Ludovic Bouland. Dieser gab dem Buch die sonderbare Hülle: die Haut einer seiner verstorbenen Patientinnen. Von dem Mediziner sollen auch die handschriftlichen Vermerke stammen: Ein Buch über die menschliche Seele verdient einen menschlichen Überzug. Und: Bei genauem Hinsehen lassen sich die Hautporen leicht erkennen.

Jetzt stand Lisa lächelnd vor ihm. Er nahm ihr den Mantel ab, eine knielange, gesteppte Winterjacke mit schmalem, antailliertem Schnitt.

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