Anmerkungen zur These vom „Ende des Buches“


Anmerkungen zur These vom „Ende des Buches“

 

Anlässlich einer Lesung in Frankfurt am Main, die am 19. März 2020 stattfindet, werde ich aufgefordert, ein kurzes Statement abzugeben, das die Frage „Erwartungen an mein Publikum? (in der heutigen Zeit, in der immer wieder ‚das Ende des Buches’ beschworen wird)“ aus meiner persönlichen Sicht beantwortet. Zum ersten Teil der Frage fällt mir nichts ein, ich hoffe natürlich, dass die Lesung aus meinem Roman „Gespräche am Teetisch“ das Publikum anspricht; diese Hoffnung ist meine einzige Erwartung. Zum zweiten Teil der Frage, besser gesagt: dem Passus „Ende des Buches“ fällt mir dagegen umso mehr ein. Die Formulierung erscheint mir geradezu absurd. Nicht etwa, weil ich sie als Erwägung oder Befürchtung für unberechtigt halten würde, sondern aus der rein subjektiven Empfindung heraus, dass sich in mir alles sträubt gegen den Gedanken, das Buch könne in absehbarer Zeit in die Reihe vergangener Medien eingeordnet werden wie ungebrannte beschriftete Tontafeln oder die Papyrus-Rolle. Werde ich meiner Tochter ein Museum vererben in Form meiner kleinen Bibliothek? Wie soll ich hier meine Gedanken ordnen? Ich beginne mit einer Begebenheit, als ich vor einigen Jahren mit einer Schulklasse die Ingelheimer Kaiserpfalz besuchte. Eines der Ausstellungsstücke war ein handgeschriebenes Buch hinter Glas, es lag aufgeschlagen da, die Initialen bunt ausgemalt. Mein Sinn war gebannt von diesem Werk, innerhalb von Sekunden war die unauslöschliche Erinnerung perfekt. Wie konnte dies statthaben? Was hatte das handgeschriebene Buch, dass es diese Wirkung auf mich ausübte? Spürte ich durch die säuberlich geschriebenen Zeilen und die schwungvoll-bunten Initialen noch den Menschen, der vor vielen Jahrhunderten – im Mittelalter, wahrscheinlich ein Mönch in einem Skriptorium – mit diesem Buch seinen Fleiß und seine Hingabe belegte? Warum sonst sprach mich das Buch an auf unvergleichliche Weise? Warum erreichte mich seine – ich scheue mich nicht zu sagen – Aura wie ein fortwährender faszinierender Energiestrom? Es war nicht der Inhalt des Buches, den ich kaum zur Kenntnis nehmen konnte, es war seine Machart, die Art seines äußeren Erscheinens. Es war die Symbiose von Sinnlichkeit und Geist; denn natürlich wusste ich, dass der Zweck des Buches der Transport eines geistigen Inhalts war. Aber was soll dies nun heißen? Bin ich der skurrile Verfechter handgeschriebener Bücher im Computerzeitalter? Ich bin kein Verfechter, sondern ein Beobachter als Leser, und dies schon seit geraumer Zeit. Mir ist klar, dass handgeschriebene Bücher im Mittelalter das sprichwörtliche Vermögen wert waren und sie sich nur wenige Reiche leisten konnten; abgesehen davon, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung – nicht nur die Bauern, sondern auch die Adligen – des Lesens und Schreibens unkundig waren. Mit Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern beginnt einerseits die Demokratisierung des Wissens, weil seine mediale Verbreitung billiger wird als vorher, andererseits aber auch das, was ich die Entmaterialisierung des Buches nenne. Wenn der Prozess der Moderne mit zunehmender Normierung beschrieben werden kann, fällt der Phänotyp des Buches darunter. Nach und nach wurde das Buch seines äußeren Ansehens beraubt, bis wir heute an einem Punkt angelangt sind, wo nackte Texte über den Bildschirm flimmern. Warum wehrte sich der alte Hermann Hesse gegen das Vorhaben seines jungen Verlegers Siegfried Unseld, seine Werke im Taschenbuchformat erscheinen zu lassen? Fürchtete Hesse um die Würde seiner Bücher, wenn sie statt im Hardcover im Paperback verbreitet würden? Am Ende gab Hesse nach und wünschte nur, dass Unseld im eigenen Verlag eine Taschenbuchreihe eröffnete, was die Geburtsstunde der edition suhrkamp bedeutete. Die kleine Begebenheit ist mir merkwürdig geblieben. Ich komme darauf zurück, will aber vorerst aus meinen Lese-Erinnerungen berichten, um darzutun, warum sich in mir alles sträubt gegen den Gedanken, das Buch könne in absehbarer Zeit in die Reihe vergangener Medien eingeordnet werden wie ungebrannte beschriftete Tontafeln oder die Papyrus-Rolle.

In meiner Kindheit entdeckte ich zwei Bücher, die mir eine erste Ahnung gaben von meiner künftigen Buch- und Leseleidenschaft. Es handelte sich um ein Buch über christliche Märtyrer und Märtyrerinnen, das farbig illustriert war, sowie ein Buch über ein Wildschwein-Leben mit dem Titel „Wutz“. Das war mal etwas – nämlich etwas völlig Neues und Aufregendes! Ich führte das Leben eines eingeschüchterten und beleidigten Kindes, immer in Alarmbereitschaft vor der nächsten Gewaltattacke der Stiefmutter, aber die beiden Bücher rissen mich hin und hatten nicht das Geringste zu tun mit der Stiefmutter und meiner verstörten Kinderexistenz. Das Faszinierende war, dass ich Schönes und Spannendes empfinden konnte – „Wutz“ und das Märtyrer- und Märtyrerinnen-Buch schenkten mir dieses Gefühl und diese Ahnung. Auch erinnere ich mich daran, in einem Sammelband eine Geschichte über einen alten Elch gelesen zu haben, der einem Wolfsrudel in einem Kampf auf Leben und Tod entrinnen kann. Diese Geschichte sprach ich auf Tonband und imitierte dabei das Wolfsgeheul so gut ich es vermochte. Merkwürdigerweise habe ich danach erst einmal keine weiteren Bücher mehr gelesen. Ein Erinnerungsfetzen zeigt mich am Regal stehen und zwei, drei Bücher ansehen, die ich nach kurzer Prüfung enttäuscht wieder zurückstelle. Da dachte ich wohl, es sei nichts mehr zu finden für mich in der Welt der Bücher. Aber halt! Sachbücher über Tiere ließ ich mir zu Weihnachten schenken und las sie genau. Aber erst nachdem ich mit elf Jahren – zu meinem Glück! – in ein Internat verfrachtet worden war und das verhasste Elternhaus wenigstens für die Schulwochen des Jahres hinter mir lassen konnte, wurde ich zum hingebungsvollen Leser. Zunächst wieder Tiergeschichten und -Darstellungen, Paul Eippers „Die gelbe Dogge Senta“ und „Tiere sehen dich an“ oder ein Heft über Warmwasserfische. (Das Buch „Die gelbe Dogge Senta“ lieh mir mein Deutsch- und Klassenlehrer Hans Rücker aus. Es muss dies um das Jahr 1970 gewesen sein. 50 Jahre später las ich im Rathaus der Stadt Bensheim, meiner ehemaligen Internatsstätte, aus meinem oben genannten Roman vor. Mein ehemaliger Lehrer befand sich unter der Zuhörerschaft und schenkte mir anschließend Paul Eippers Buch, das er mit einer Widmung versehen hatte. Natürlich steht das Werk an einem Ehrenplatz in meinem Bücherregal.) Aber dann war die Zeit für die Literatur gekommen. Es begann damit, dass mich meine Cousine und mein Cousin aus Darmstadt besuchten. Sie schenkten mir Hermann Hesses Erzählung „Unterm Rad“. Viermal habe ich das Buch während meiner Internatsjahre gelesen. Ich konnte gar nicht anders, als immer wieder zurückzukehren zu Hans Giebenrath. Warum war das so? Bin ich heute in der Lage, mir mein Leseverhalten zu erklären? Die Antwort ist gebündelt. Da gab es die Ähnlichkeiten im Leben Giebenraths und dem meinen: beide hatten wir die Mutter früh verloren, und dieser Schaden war nicht mehr gutzumachen; da gab es die gemeinsame Unterbringung in einem Internat und das gemeinsame Erleben der Pubertätsjahre. „Unterm Rad“ las ich auch als Heldengeschichte, zumindest bis zu den Teilen, in denen Hans schulisch obenauf ist und von seiner Umwelt, Vater, Lehrern, Verwandten und Mitschülern bestaunt wird. Aber auch Fragen bedrängten mich bei diesem Buch: Warum gerät Hans unters Rad? Warum ist er nicht in der Lage, endgültig zu triumphieren? Macht er etwas falsch oder wird er wehrlos überrollt? Ich konzediere, dass ich diese Fragen damals nicht ernsthaft erwog, sondern nur gefühlshaft umkreiste. Die ästhetische Rezeption war ein Weiteres, was mich faszinierte an Hesses Erzählung. Nicht zum ersten, aber zum vertieften Mal begriff ich die Möglichkeit schriftstellerischer Kunst, ein Geschehen so darzustellen, dass es wie lebendig erscheint und sich einen bleibenden Platz im Gedächtnis der Menschen erobert. Das war meine ästhetische Makro-Rezeption, die sich später oft wiederholte bei anderer Lektüre. Eine ästhetische Mikro-Rezeption gab es auch, sie bestand in der Beobachtung und Empfindung, wie Hesse Landschaften und Szenarien schildert und damit Stimmungen hervorruft, in denen die eigentliche Handlung eingebettet ist. Das braune „suhrkamp taschenbuch“ vom Anfang der siebziger Jahre mit dem zwölfjährigen Hermann Hesse auf dem Frontumschlag begleitet mich durch mein gesamtes bisheriges Leben. Es steht – neben manchen weiteren Titeln – auf einer Buchstütze in meinem Regal und erinnert mich an Lektürestunden, die es in sich hatten.

Was hatten die Lektürestunden in sich? Einen geistigen Resonanzraum, materiell verankert im Taschenbuch. Diese Erfahrung wiederholte sich in den Internatsjahren noch oft, mit Hesse-Titeln wie „Peter Camenzind“ oder „Demian“, mit Thomas Manns „Doktor Faustus“, der „Deutschstunde“, dem „Untertan“ oder „Gruppenbild mit Dame“. Die materielle Verankerung im Taschenbuch – zugegeben eine unbeholfene Formulierung – spielte dabei jedes Mal eine Rolle und eine Geschichte. Das grüne suhrkamp-taschenbuch „Peter Camenzind“ von 1974 mit dem Halbprofil des jungen Autors und Naturburschen Hermann Hesse auf dem Frontumschlag nahm ich mit in den Sportunterricht. Außerdem hatte ich eine Entschuldigung dabei, was im Sportunterricht öfter der Fall war. Der Sportlehrer war auch mein Deutschlehrer; besagter Hans Rücker. Die abermalige Entschuldigung für den Sportunterricht nahm er mit ernster Miene zur Kenntnis, aber als Deutschlehrer wollte er wissen, welches Buch ich in der Hand hielt, ließ sich das Bändchen geben, blätterte kurz darin und machte wohl auch eine Bemerkung zu Hesses Erstlingswerk, bevor er es mir wieder zurückgab. Die beiläufige Szene steigt mir immer wieder ins Gedächtnis nebst einigen Episoden der Erzählung, sobald mein Blick auf das grüne Taschenbuch fällt.

Etwas Besonderes war es auch mit Hesses „Demian“, den ich in einer alten Hardcoverausgabe von 1949 als Geschenk des verehrten Internatserziehers Siegfried Schramm (1907-1985) erhielt. Er hatte in seiner charakteristischen und herausragend schönen Handschrift seinen Namen eingetragen sowie die Jahreszahl des Bucherwerbs und – ich nehme an – der Lektüre in römischen Ziffern notiert: MCLIII. Heute bewahre ich dieses Buch als einen meiner persönlichen Schätze im Bücherregal. Es steht auf einer Buchstütze und begrüßt mich jedes Mal, wenn ich mein Arbeitszimmer betrete, als Zeuge eines Menschen und einer Zeit, die ich als Befreiung von meinem gewalttätigen Elternhaus empfinde.

In die Deutsche Kurrentschrift der alten „Demian“-Ausgabe las ich mich rasch ein. Habe ich noch jemals ein Buch mit größerer Hingabe gelesen? Das Buch lehrte mich aber auch, dass ein fulminantes Lektüreerlebnis in späterer Zeit sich nicht automatisch wiederholt. Es war gebunden an eine – ich erlaube mir das schöne Wort – Epoche meines Daseins. Diese Epoche war nicht allein durch die Pubertät bestimmt, in der ich mich befand, sondern auch durch äußere Umstände. Als entscheidenden Faktor möchte ich die Freizeit nennen, über die ich als Internatsschüler in einem wohl geordneten Tagesablauf verfügte. Außerdem war ich noch nicht wie Thomas Buddenbrook mit privaten und amtlichen Geschäften überhäuft.

Die Fischer-Taschenbuchausgabe des „Doktor Faustus“ von Thomas Mann aus dem Jahr 1975 (erste Auflage 1971) ist mittlerweile auch im Internethandel eine Rarität. Sie zeigt auf dem Frontdeckel einen gebeugt am Tisch sitzenden, nachdenklichen, bärtigen Mann, den Kopf mit der linken Hand, die zur halben Faust geformt ist, abstützend. Der gesamte rechte Unterarm liegt auf der Tischplatte. Der Blick des Mannes scheint die Tischplatte zu fixieren. Unruhig flackert eine Kerze am rechten Bildrand in Richtung des Mannes. Heute wundere ich mich, dass ich den Spuren des einsam-umdüsterten Adrian Leverkühn auf 500 Seiten gefolgt bin, obgleich ich als Schüler einer zehnten Klasse nicht viel verstanden haben dürfte von Thomas Manns geistesgeschichtlicher Deutung der deutschen Katastrophe in der NS-Zeit und den musikwissenschaftlichen Exkursen. Trotzdem faszinierte mich die Lektüre so sehr, dass ich noch vor ihrem Ende ein weiteres Exemplar des Romans kaufte und Siegfried Schramm, der mittlerweile pensioniert worden war, schenkte. „Doktor Faustus“ war der einzige Roman Thomas Manns, den Siegfried Schramm noch nicht kannte. Den Geruch des Fischer-Taschenbuches, der intensiver war als bei suhrkamp-taschenbüchern oder dtv-Bänden, sog ich bis zur letzten Seite immer wieder gerne ein.

Beim „Untertan“ Heinrich Manns oder Bölls „Gruppenbild mit Dame“ verstand ich sicherlich schon etwas mehr als beim komplizierten Altersroman Thomas Manns, dennoch blieben mir auch dort manche Zusammenhänge verborgen; etwa der Verrat Diederich Heßlings am bürgerlichen Liberalismus des alten Buck und der Bewegung um 1848. Meiner Leselust tat dies keinen Abbruch – bis heute rätsele ich, woran dies gelegen haben mag. Siegfried Schramm schenkte mir damals eine Taschenbuchausgabe der „Buddenbrooks“, die nicht an mich ging, obgleich das Verständnis auch eines Zehntklässers durch den weltberühmten Familienroman kaum ernsthaft strapaziert wird. Erst mit der Verfilmung des Romans in elf Teilen durch den Hessischen Rundfunk im Jahr 1979 habe ich Zugang gefunden zu Thomas Manns genialem Erstlingswerk und es dann mit Bewunderung gelesen. (Übrigens verabscheute Siegfried Schramm die Verfilmung durch den Hessischen Rundfunk, die ich von den drei Buddenbrooks-Verfilmungen nach wie vor für die gelungenste halte; da waren wir beide einmal unterschiedlicher Meinung.)

Das Lesen öffnet die Schneisen im Alltag, der oft genug im immer gleichen Kleid daherkommt. Hinter den Schneisen liegt die Ahnung von etwas Neuem, das wir Leben nennen.

Der historische Jugendstil-Lesesaal der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek Mainz ist an den Wandseiten umrahmt von Büchern, die in Regalen stehen. Ohne die Bücher – zumeist im Hardcover – verlöre der einzigartige Lese- und Studiersaal seine Atmosphäre. Im Bereich der Freihandexemplare, außerhalb des Lesesaals, hängt eine überdimensionale Leinwand aus. Ein Zitat von Jorge Luis Borges (1899-1986) ist darauf künstlerisch gestaltet. Es lautet: „Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt.“