Bericht des Amtmanns a.D., Teil 3


Bericht des Amtmanns a.D., Teil 3

 

Was ich im einen oder anderen Fall über die weiteren Schicksale der Fürsorgezöglinge zufällig erfahren konnte, bestärkt mich in der Auffassung, dass Gustav S. eine Ausnahme gewesen ist. Den meisten hat die Kraft gefehlt, um sich aus der Misere ihres Anfangs zu befreien. Ist ihnen daraus ein Vorwurf zu machen, dergestalt dass sie ab einer bestimmten Phase ihres Lebens für sich selbst verantwortlich waren und die damit verbundenen Möglichkeiten nicht genutzt haben? Ich bin mir nicht sicher. Was wissen wir denn über die Möglichkeiten, die einem Menschen gegeben sind? Und was macht die Distanz oder das Moment aus zwischen einer jeweiligen Möglichkeit und dem Entschluss, sie zu ergreifen oder nicht?

Der zweite Fall, von dem ich Ihnen erzählen will, betrifft die beiden Töchter des Maurers Martin St. in L. und dessen Ehefrau Klara, geb. W. Für die im sechzehnten Lebensjahr stehende Elisabeth St. wurde Fürsorgeerziehung angeordnet, für ihre achtzehnjährige Schwester Katharina St. dagegen abgelehnt. Familie St.  lebte in zerrütteten Verhältnissen. Der Vater genoss einen schlechten Ruf, hatte schon eine Zuchthausstrafe wegen Meineids verbüßt und die bürgerlichen Ehrenrechte auf fünf Jahre aberkannt bekommen. Im Haus St. herrschten fast ständig Zank und Streit. Herr St. war oft betrunken und wurde als grob und rabiat bezeichnet. Für Frau und Kinder sorgte er nicht ausreichend, stattdessen unterhielt er eine Beziehung mit einer anderen Frau. Die finanziellen Mittel, um seine Familie angemessen zu versorgen, besaß er durchaus. Er bezog eine Kriegsbeschädigtenrente von (liest von der Unterlage ab): fünfundsechzig Reichsmark, besaß Ersparnisse und Grundbesitz, verfügte über Mieteinnahmen und verrichtete, wenn auch nicht regelmäßig, Maurerarbeiten. Trotzdem ließ er es an der notwendigsten Unterstützung für seine Familie fehlen. Die Mädchen hatte er wiederholt und zum Teil schwer misshandelt. Sie hatten öfter Reißaus genommen und bei Verwandten und Bekannten Schutz gesucht. Als Elisabeth St., die Fünfzehnjährige, eines frühen Morgens bei der Gemeindeschwester Schutz vor dem Vater suchte, kontaktierte uns die Gemeindeschwester, und wir gingen der Sache nach. Frau St., die Mutter, ergriff gegenüber dem Vater Partei für ihre Töchter und wollte schon die Ehescheidung beantragen. Auf Bitten ihres Mannes machte sie aber wieder einen Rückzieher. Im Juni 1936 wurde Katharina St., die auch geflohen war vor dem Vater, durch das Vormundschaftsgericht angewiesen, in den elterlichen Haushalt zurückzukehren, da damals nicht genügend Gründe vorhanden waren, um die elterliche Erziehungsgewalt des Vaters zu beschränken oder aufzuheben. Allerdings wurde ihr zugesagt, ihren Vater auf den Umfang seiner elterlichen Gewalt hinzuweisen. Katharina St. ignorierte die Anweisung des Vormundschaftsgerichtes und blieb weiterhin von zu Hause weg. Sie nahm auswärts verschiedene Stellungen an, die sie aber nach kurzer Zeit alle wieder aufgab. Gegen den Willen ihres Vaters unterhielt sie eine Beziehung zu Christian Wilhelm M., der vier Jahre älter war als sie. Am 18. März 1937 wurde sie von einem Kind entbunden, seitdem  wohnte sie doch wieder bei den Eltern. Eine Heirat kam damals nicht in Frage. Die kreisärztliche Untersuchung Katharinas ergab, dass sie intellektuell schwach begabt war und sich an der unteren Grenze der Norm befand. Mit Rücksicht darauf, dass sie schon über 18 Jahre alt war und schon geboren hatte, glaubte das Gericht nicht an einen Erfolg der Fürsorgeerziehung und lehnte sie ab. Anders war es bei der jüngeren Schwester Elisabeth. Hier sah das Gericht die Voraussetzungen der Fürsorgeerziehung für gegeben an, zu diesen Voraussetzungen zählte auch immer die Aussicht auf Erfolg. Nein, in ein Fürsorgeheim wurde Elisabeth nicht gegeben, sondern sie wurde in einer Familie untergebracht. Ihre intellektuelle Begabung war normal gewesen, weitaus besser als bei ihrer älteren Schwester. Wie ihr Leben verlaufen ist? Ich weiß es nicht. Wie bei so vielen anderen „Fällen“ waren wir nach der Recherche der Lebensumstände und der Formulierung eines Fürsorgeantrags nicht mehr länger damit „betraut“.

 

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