Besuch
Erzähl-Fragment, Teil 2
Beim Frühstück trat erst einmal wieder die alte Stimmung auf: beherrscht von den inneren Lasten Saskias. Das sichtbare Zeichen dafür war der Smalltalk, der sich ergab:
Ach, Pflaumenmus mag ich ab und zu ganz gerne.
Aber Wurst und Käse zum Frühstück, das geht nicht bei mir.
Bei mir schon usw.
Ganz ist das natürlich nicht richtig, was die gedrückte Stimmung betrifft. Livi sorgte für Unterhaltung. Seit neuestem kannte sie das Wort „ruiniert“ und gebrauchte es gern. Als sie ihren Trinkbecher mit Milch umstieß, klagte sie:
„Oh, jetzt ist alles ruiniert!“
Die Erwachsenen am Tisch mussten trotz des kleinen Malheurs lächeln, auch Saskia. Doch dann wurde es ernster. Livis Toastbrot landete mit der Marmeladenseite auf dem Boden, eine Unmutsäußerung Linas veranlasste Livi zu der kategorischen Erklärung, jetzt überhaupt nichts mehr zu essen – nie mehr! Dazu brach sie in lautes Wehklagen aus, stieg von ihrem Stuhl herunter, rannte in den Hausflur und ließ von dort aus ihr Wehklagen noch lauter erschallen.
Ich machte Anstalten, Livi zurückzuholen.
„Lass sie plärren!“, meinte Lina.
„Das arme Kind!“
„Darauf wartet sie doch nur!“
„Ich hol sie jetzt! Wie hört sich das auch an!“
Lina schwieg, vielleicht weil Saskia da war.
„Willst du wirklich nichts mehr essen, Livi?“
„Nein, nie mehr!“
„Das kann doch nicht sein, mein kleines Mummelchen! Mama muss essen, Papa muss essen, das kleine Mummelchen muss doch auch essen. Und überhaupt“ – jetzt kitzelte ich Livi ganz leicht, die Andeutung eines Lächelns ließ mich hoffen – „und überhaupt weißt du ja noch gar nicht, welche tolle Wurst der Papa extra für das Effelchen gekauft hat“ – wieder kitzelte ich sie, diesmal schon etwas deutlicher; Livi lächelte nun schon klar und kringelte sich dabei ein wenig zusammen – „komm, diese tolle Wurst muss ich dir jetzt aber unbedingt zeigen!“ Ich trug Livi zum Frühstückstisch zurück, wo sie sich willig von mir auf ihren Stuhl setzen ließ. Natürlich musste ich jetzt die Wurst hervorzaubern, von der ich gesprochen hatte. Hatte Saskia vorhin nicht eine Plastikbox mit Wurstscheiben auf den Tisch gestellt? Ich vergewisserte mich – und tatsächlich: es war so!
„Hier, Livi, deine Wurst!“, sagte ich und legte zwei Scheiben auf ihren Teller. Zu meiner Erleichterung schien Livi nicht uninteressiert zu sein.
Lina sprang mir bei:
„Ich schmiere dir Butter auf ein Toastbrot und lege dir die beiden Scheiben drauf.“
„Aber schneiden, Mama!“
„Ja, schneiden“, sagte Lina, „und nicht fallen lassen, okay?“
Livi akzeptierte die kleine, nachgeschobene Ermahnung; ich glaube sogar mit einem leisen „ja“.
Beruhigt setzte ich mich wieder hin. Saskia streifte mich mit ihren Augen.
In irgendeinem Zusammenhang kam Lina noch einmal auf mein Schreiben zu sprechen. Saskia fragte mich:
„Was schreibst du denn?“
In ihrem Tonfall glaubte ich zur Hälfte Interesse, zur anderen Hälfte bloße Höflichkeit herauszuhören. Zwei Sekunden überlegte ich: Soll ich es klar sagen? Ach, ich mache es einfach!
„Ich schreibe in drei Bereichen: regionalgeschichtliche Aufsätze, didaktische Literatur und Belletristik; vor allem Erzählungen und Gedichte.“
„Aha“, entgegnete Saskia. Konnte ich dem Ausdruck ihrer Augen Überraschung ablesen, gespeist aus meiner unvermuteten Antwort, aber auch der entschiedenen Stimmlage, mit der ich sie vorgetragen hatte?
„Und das alles neben dem Beruf?“ fragte Saskia.
Ich ließ mich nicht beirren:
„Das Schreiben liegt in meiner DNA, ich habe schon als Kind geschrieben. Außerdem verwende ich auch manche meiner Texte im Unterricht. Bei den didaktischen Sachen ist es klar, aber auch einige regionalgeschichtliche Aufsätze haben schon den Weg ins Klassenzimmer gefunden.“
Nun kam es mir so vor, dass Saskia überlegte – eine oder zwei Sekunden lang. Ihre Entscheidung lautete:
„‘Regionalgeschichtliche Aufsätze‘ – welche zum Beispiel?“
„In diesem Sommer habe ich im Stadtarchiv Flörsheim die Chronik des Flörsheimer Bürgermeisters Jakob Lauck eingesehen, die er während des Ersten Weltkriegs geschrieben hat, sogar noch darüber hinaus, bis in den Sommer 1919“, antwortete ich mit seltenem Eifer. Es kam nicht so häufig vor, dass ich mich mit jemand unterhalten konnte über meine Texte. (Was heißt „unterhalten“? Soweit war es ja noch kaum, aber es sollte sich dorthin entwickeln, wenn auch auf eine ganz merkwürdige Art.) Lina war anders unterwegs, mit Ausritten mit Pepper, Tierkommunikation oder Heilkräutern, aber weniger mit meinen zurückgezogenen Schreibarbeiten und schon gar nicht mit altem Zeug wie der Kriegs-Chronik des Jakob Lauck von anno dazumal.