Das andere Gesicht, Teil 2


Es bleibt still.

Still wie an den Sonntagen, an denen ihre Mama beleidigt war und kein einziges Wort mit ihr oder Papa sprechen wollte. Papa hat sie bei der Hand genommen und sie sind zur Kirche gegangen und alle haben sich nach ihm umgedreht. So ein schöner Mann und seine schöne Tochter, haben sie gesagt. Und er hat alle gegrüßt, mit seiner schönen Stimme.

„Papa“, ruft Adele. „Bist du hier?“

Adele kann ihn nicht sehen. Sie sieht nur den grauen, spiegelglatten See. „Was die sich so alles ausdenken, um einen in Schach zu halten“, sagt sie. Ihr kann man nichts vormachen, sie weiß, dass man sie hereingelegt hat. Das ist ein anderer See, als der, zu dem sie mit Papa gegangen ist.

Aber niemand kann sie aufhalten, nicht einmal Mama.

Am Wasser geht immer ein Wind, weiß Adele. Mit Papa ist sie oft über den See gerudert, nicht den, den sie jetzt hier erfunden haben, aus irgendeinem Grund. Mama ist manchmal an den See nachgekommen und hat vom Ufer aus gewunken. Papa hat ihr Hüte geschenkt. Mama hat sich immer darüber geärgert, dann durfte sie die Hüte tragen. Den mit den drei malvefarbenen Blüten fand sie allerdings zu damenhaft für ein Kind, und dann hat Mama sich mit dem Wind abgesprochen, und der hat ihr den schönen Hut vom Kopf gerissen und übers Wasser getrieben.

Mal sehen, wer zuerst auf der anderen Seite ist, wir mit dem Boot oder dein Strohhut, sagte Papa und lachte. Aber sie fand es gar nicht zum Lachen, erinnert sich Adele.

„Der Wind ist ein rücksichtsloser Geselle“, sagt sie. „Du hast das unterschätzt, Papa.“

Am Horizont erscheinen wankende Gestalten. „Jetzt kommt es darauf an zu verschwinden, dass es keiner merkt“, denkt Adele. Aber was ist, wenn sie unterschätzt, wie tief das Wasser ist?

„Nur Ungläubige versinken im Meer, sagt sich Adele. Und. „Angst ist dunkler Raum, man muss nur das Licht andrehen, um es zu sehen.“ Und. „Egal, wie es kommt, mach immer eine gute Figur.“

Papa hat das auch immer gesagt.

Dann sieht  sie ihn kommen, beruhigend langsam kommt er auf sie zu, durchs Wasser kommt er, so tief kann also auch dieser See nicht sein.

„Hier stimmt was nicht, Papa. Bring mich nach Hause.“

„Adele, meine Liebe, möchten Sie ausgehen?“

Adele stutzt. Ihr Rücken krümmt sich vor Misstrauen.

„Wer sind Sie?“ fragt Adele.

„Ich bin Betty. Wir kennen uns.“

„Woher?“

„Wir haben gestern Abend zusammen gesungen. Ich bin die Nachtschwester.“

„Wir beide… gesungen? Nicht, dass ich wüsste.“

„Sie sind eine großartige Sängerin. Und eine großartige Tänzerin. Sie singen und tanzen wie eine Göttin.“

„Mich können Sie nicht für dumm verkaufen. Ich bin hier noch nie gewesen“, sagt Adele. „Und gesungen habe ich auch nicht. Mit niemandem. Wo man zu Hause ist, kennt man alle: Mama, Papa, Großmama, Großpapa, einfach alle. Hier kenne ich niemanden… Sie haben mich beobachtet, ich habe getanzt, jawohl, irgendwann. Und Sie haben es gesehen und wollen mir jetzt einen Strick daraus drehen. Aber nicht mit mir. Merken Sie eigentlich nicht, wir stehen im mitten im Wasser?“

Betty nickt freundlich. „Darf ich Sie ein paar Schritte begleiten?“

„Wozu?“

„Ich dachte, es könnte Ihnen gefallen, wenn wir zusammen durchs Wasser gehen. Zusammen fürchtet man sich weniger als allein.“

„Um was zu tun?“

„Wir könnten singen.“

„Gefällt es Ihnen im Wasser?“

„Ja, ich finde, es macht Spaß.“

Betty bewegt sich vorsichtig zwei, drei Schritte. Dann bleibt sie stehen. „Jetzt Sie, Adele“, sagt sie und winkt.

„Von mir aus.“

Betty stimmt ein Lied an, während Adele ihr entgegenkommt.

„Herrlich im Morgen zu schreiten durch das erwachende Land. Haben wir schönere Zeiten denn jemals gekannt …?“ singt sie.

„Vögel, die frühmorgens singen, holt die Katz“, wussten Sie das?“, sagt Adele.

Betty lacht. „Ich kenne diesen Spruch“, sagt sie. „Aber uns wird nichts passieren. Ich passe auf.“

„Wenn wir mal nicht in dem See hier ersaufen“, sagt Adele.

„Er ist nicht sehr tief.“

„Woher wollen Sie das so genau wissen.“

„Ich durchquere ihn jeden Tag.“

„Jeden Tag? Wirklich?“

„Ja. Jeden Tag. Wollen wir zusammen singen?“

„Davon habe ich nichts.“

„Ich würde Sie sehr gerne singen hören.“

„Danke, aber ich möchte nach Hause.“

„Eins, zwei Lieder. Das müsste doch möglich sein.“

„Eins oder zwei. Das könnte ziemlich lang werden.“

„Sie entscheiden, wann Schluss ist. Einverstanden?“

„Was soll man darauf antworten?“

Und Adele und die Nachtschwester Betty gehen zusammen in einen vollkommen klaren Tag. In einen Tag, an dem Amseln und Meisenpärchen und Rotkehlchen geschäftig von Baum zu Baum fliegen und Betty summt vor sich hin und Adele kann nicht anders, sie singt jetzt auch, und die Vögel legen ihren Gesang noch dazu.

Betty dirigiert Adele unauffällig zu einer Bank, auf der in großen Lettern das Wort Bank zu lesen ist. Daneben steht ein Kastanienbaum in voller Blüte. An einem seiner unteren Äste schaukelt ein Stück Pappe, auf der in fetten Lettern Baum zu lesen ist.

„Es ist ganz nett hier“, sagt Adele. „Für eins, zwei Lieder, meine ich.“

 

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