Der Flaneur: Eine Ehrenrettung


Der Flaneur: Eine Ehrenrettung

Wenn es eine rote Liste vom Aussterben bedrohter Lebenskünste gibt, so steht das Flanieren auf dieser sicher weit oben. Der Flaneur (und ich meine hier immer ausdrücklich auch die weibliche Variante) ist aus den Städten verschwunden. Und falls es ihn noch gibt, so geht er unter in dem Meer dynamisch und zielstrebig oder einfach nur gehetzt hin- und hereilender Menschen mit wichtigem Gesichtsausdruck. Und zwischen den Gruppen von Touristen, die von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten gehetzt werden, damit sie die auf der Liste „1000 things to see before you die“ abhaken können, und die auf dem Weg dazwischen weder Zeit noch Muße haben, sich einfach ziellos in der Stadt treiben zu lassen.

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Ich weiß, hier beklagt jemand ein Problem, von dem er selbst ein Teil ist, wer jagt denn die Touristengruppen im Schweinsgalopp durch die Städte, damit das Besichtigungsprogramm abgearbeitet wird – der Reiseleiter. Und wenn er das nicht tut, gibt es hinterher Ärger, weil der Kunde für alle Sehenswürdigkeiten bezahlt hat und sie dementsprechend auch sehen will.

Dabei könnte es für den Reisenden ein größerer Genuss sein, wenn der Reiseleiter in seinem Inneren ein Flaneur ist, und wenn er seine Gäste auch dazu erzieht.

Zugegeben, der Flaneur hat in der Literatur nicht den besten Ruf. Hochnäsig sei er, herablassend, snobistisch. Das mag auf den ersten Blick so scheinen. Aber im Grunde ist der Flaneur ein sehnsuchtsvoller Jäger und Sammler. Er ist auf der Jagd nach Eindrücken. Das kann ein besonders schönes Detail an einem Gebäude sein, ein Klang, der aus einem offenen Fenster auf die Straße herausweht, ein Geruchsfaden, der von einem Restaurant oder einer schönen Frau mit einem besonderen Parfüm ausgeht. Oder alle diese Sinneswahrnehmungen von Anblick, Gehör und Geruch gleichzeitig, vielleicht auch noch das Gefühl eines leichten Windes oder eines warmen Nieselregens auf der Haut. Dann sieht man ihn im Stadtbild plötzlich innehalten, ohne Rücksicht darauf, dass er das zielstrebige Vorankommen der anderen behindert, den „Verkehrsfluss“ stört.

Diese Momente sucht er, die eben nicht beliebig zu jeder Zeit und an jedem Ort der Welt reproduzierbar sind. Sie saugt er tief in sich ein, um sie dann an mußevollen Abenden hervorzuholen und sich an ihnen zu erfreuen, so wie ein Sammler an solchen Abenden bei einem Glas guten Weines seine erworbenen Schätze betrachtet.

Ja, der Flaneur kann herablassend wirken. Er ist der Meinung, dass eine Stadt, eine Landschaft, alles, dem ein Kern von Schönheit innewohnt, Respekt verdient hat. Und gegenüber denjenigen, die diesen Respekt nicht aufbringen wollen oder können, die die Umgebung nur lärmend als Kulisse für die Selbstdarstellung auf ihren Selfies nutzen, um zuhause triumphierend sagen zu können: Und da bin ich auch gewesen! – denen gegenüber kann der Flaneur auch Verachtung zeigen.

Ja, der Flaneur ist oft fast schon übertrieben elegant gekleidet. Er sucht in einer Stadt, einer Landschaft das Schöne, und eben so wenig wie er möchte, dass die Stadt seine Augen, sein Empfinden von Schönheit beleidigt, so wenig möchte er die Stadt durch ein eigenen Aussehen beleidigen, weshalb ihm schmuddelige oder schlampige oder auch nur schreiend bunte, indezente Kleidung ein Greuel ist.

Sein Flanieren bedeutet für ihn Gewinn. Er erlebt die besuchten Orte wirklich und kann dieses Gefühl in sich immer wieder wachrufen. Nahezu jeder dürfte es schon beim Betrachten von Urlaubsfotos festgestellt haben, dass diese den besonderen Zauber eines Ortes (so man ihn denn überhaupt wahrgenommen hat) nicht einfangen können. Selbst das beste Panoramafoto vom Grand Canyon kann einen nicht dieses Gefühl nahezu unendlicher Weite vermitteln, das man erlebt, wenn man die Welt nicht durch die Kamera, sondern mit all seinen eigenen Sinnen wahrnimmt.

Oder der Moment, von dem ich schon geschrieben habe: Als ich allein, im strömenden Regen und natürlich ohne Regenschirm im Park von Versailles an den Wasserspielen stand, die Barockmusik klang aus den Lautsprechern und ich hätte heulen können vor so viel Schönheit – diesen Moment kann man bestenfalls anderen gegenüber mit Worten dürftig beschreiben, wirklich nacherleben können sie ihn dennoch nicht. Aber ich, ich selbst kann ihn mitunter aus meiner Erinnerung heraufholen und genießen – ein unendlich kostbarer Schatz, der mich, im Gegensatz zu den üblichen Mitbringseln, nichts gekostet hat.

Vielleicht ist es gerade das, worüber vor langer Zeit Ulla Meinecke gesungen hat: Schlendern ist Luxus. Gerade im Urlaub wollen die Leute doch Luxus erleben, und wenn es diesen Luxus noch dazu gratis gibt, wenn er nichts weiter kostet als ein wenig Sorgfalt und offene Sinne, was hält uns davon ab, zu Flaneuren zu werden?

Der Reiseplan, wenn auch eng gestrickt, bietet immer wieder die Gelegenheit, die Reisegäste auch einmal allein loszuschicken. Es sind erwachsene Menschen, keine Kleinkinder, die man ständig an der Hand nehmen und führen muss. Wenn man allerdings sagt: Und jetzt gebe ich Ihnen drei Stunden Zeit, die Stadt auf eigene Faust zu erkunden, hier haben sie einen kleinen Stadtplan, damit sie sich nicht verlaufen, macht sich anfangs auf einigen Gesichtern ein Hauch von Panik breit. Drei Stunden? So lange kann ich doch beim besten Willen nicht in einem Café bei einem Latte Macchiato sitzen (egal in welchem Land der Welt man ist, es muss immer Latte Macchiato oder Cappuccino sein…). Na gut, dann gehe ich eben noch shoppen – als ob die großen Warenketten nicht inzwischen so international, die Einkaufszentren nicht weltweit so uniformiert wären, dass man das, was man in Paris, London, Madrid oder Barcelona bekommt auch gut in Pirna, Leonberg, Minden oder Bautzen erwerben kann…

Drei Stunden lang nur die Sinne öffnen, möglichst alle. Und nichts müssen, nichts besichtigen, nichts einkaufen. Drei Stunden, die man als ein Geschenk betrachten kann, das man sich selbst macht.

Man muss die Reisenden behutsam vorbereiten, anfangs kleinere, übersichtlichere Städte nehmen. Aber irgendwann werden sie den Genuss des Flanierens kennenlernen, man muss ihnen nur lange genug davon vorschwärmen. Und wenn sie diese fast vergessene Kunst in ihren Anfängen erlernt haben, dann wird von dem Urlaub mehr in ihnen zurückbleiben als ein Stapel Fotos (oder etliche Megabyte Selfies auf dem Handy) und ein Beutel voll von in Asien in Massenproduktion hergestellten Souvenirs.

Hört auf euren Reiseleiter, der hat sowieso immer recht (im Englischen reimt sich das sogar: Listen to your travel guide, your travel guide is always right)!

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Noch ein Satz zum Ende dieses Beitrags, weil übermorgen für mich die neue Reisesaison beginnt und es in Mode gekommen ist, sich selbst und möglichst viele Umstehende in die Luft zu sprengen, zum Ruhm welchen Gottes auch immer: Ich habe Lust, von all meinen Reisen mit all den mir anvertrauten Reisegästen heil und vollgestopft mit schönen Eindrücken, ein paar Erkenntnissen und um einige Vorurteile ärmer zurückzukommen. Es wäre alles einfacher, wenn dieser simple Satz, den ich auf einem Denkmal in Leipzig gelesen habe, Allgemeingut würde: Man darf einer Idee Leben opfern – aber nur das eigene!

 

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