Die Erschießung des Professors Léonard Constant


Die Erschießung des französischen Gymnasial-Professors Léonard Constant in Mainz

Eine Episode aus der Separatisten-Zeit, Teil III/VI:

Exkurs: Erstürmung, Besetzung und Räumung des Kreisamtes

Am Morgen des 23. Oktober 1923 fürchteten sich die Bediensteten des hessischen Kreisamtes Mainz vor der Erstürmung des Hauses durch Separatisten. Seit einigen Tagen hatten sie „Vorgänge“[1] beobachten müssen, bei denen die Separatisten mit den Franzosen „im Bunde“ standen; dass sie gemeinsam „zu einem grossen Schlag ausholen würden“, erschien immer wahrscheinlicher. Nun war auch noch am Morgen „die Proklamation der Rheinischen Republik durch Plakatanschlag verkündet“ worden und damit höchste Gefahr im Anzug. „Gegen 8½ Uhr wurde uns bekannt, dass die Sep. am Hauptbahnhof von Auswärts(!) Verstärkungen erhielten.“ Ein größerer Trupp von ihnen setzte sich mit teilweise schwerer Bewaffnung „durch die Schillerstrasse in Richtung Schillerplatz“ in Bewegung. Der Chef des Kreisamtes, Provinzialdirektor Dr. Karl Usinger, sagte zu seinen Beamten: „Wenn sie kommen, haut ihnen etwas zwischen die Hörner!“[2]

Einstweilen brachte ein Anruf beim Polizeiamt Mainz keine Beruhigung: „sämtliche Polizeimannschaften im Polizeiamt, das damals in der Klarastrasse im Stadionerhof war“, sollten „konzentriert bleiben […], da auf alle Fälle das Stadthaus und das Polizeiamt gesichert werden müssten. Zum Schutze des Kreisamtes könnten daher stärkere Kräfte nicht zur Verfügung gestellt werden.“ Im Kreisamt selbst befanden sich lediglich „etwa 5 Gendarmen und 5 Polizisten“, aber deren Verteidigungsmöglichkeiten waren durch einen am Vorabend erfolgten Befehl der französischen Besatzungsbehörde, „wonach der Gebrauch der Feuerwaffen verboten sei“, so gut wie aufgehoben.

„etwa 200-250 Mann“ rückten vom Ballhausplatz an. Die Eingangstür des Kreisamtes – eine „schwere doppelte Eichentür“ – wurde eiligst verschlossen und noch mit einer Eisenschiene gesichert. Ein Polizeireferent und Frontoffizier übernahm die Verteidigung des Hauses. Vom Befehl am Vorabend hatte er nichts gehört, er war auch entschlossen, ihn zu ignorieren und „das Gebäude mit der Waffe zu verteidigen.“ Als die Separatisten schon in hörbarer Nähe waren – sie machten sich Mut mit revolutionären Liedern und wilden Drohungen – wurde dem Polizeiamt „nochmals […] telephonisch Mitteilung“ gemacht – vielleicht würde ja doch eine Einheit anrücken und den „Separatisten-Spuk“ gewaltsam beenden?

„die schwere doppelte Eichentür“ widerstand den Rammversuchen von außen – aber wie lange noch? Der Polizeireferent und Frontoffizier ließ sich von einem Polizisten einen Revolver reichen und gab „einen scharfen Schuss in die innere, obere Türecke ab“. Daraufhin schien „der ganze Separatistenhaufen“ auseinander zu laufen. Allerdings tauchte sofort ein Beamter „der im 1. Stock des Regierungsgebäudes befindlichen französischen Delegation“ auf, fragte, wer geschossen habe und erklärte, „dass das Schiessen verboten sei.“ Sogar der französische Kreisdelegierte, Capitaine Mazet, kam „wie ein Tiger heruntergestürzt“ – in Uniform, obwohl er sonst in Zivil den Dienst versah – und rief: „Ich habe verboten(,) vor dem Hause zu schiessen, und im Hause wird auch nicht geschossen.“[3] Damit war der Beweis erbracht, „dass hinter den Separatisten die Franzosen standen“.[4] Weiterer Widerstand war sinnlos.

Nahe gegenüber vom Kreisamt beobachteten Beamte vom Reichsbauamt und anderen Reichsbehörden, wie die französische Delegation den Schutz suchenden Separatisten aus den Fenstern des Kreisamtes durch Handzeichen zu verstehen gab, dass ein weiterer Revolverschuss aus dem Innern des Hauses gegen sie nicht zu befürchten und überhaupt jeglicher Widerstand gebrochen sei. „Daraufhin rückten sie“ – mit Brecheisen in den Händen – „erneut vor das Regierungsgebäude und stiessen nun die Tür mit Gewalt auf […] Die Separatisten stürmten in das Gebäude“[5] – unter ihnen „viele bekannte Gesichter wie Roth, Geis, Krichtel, Schmitt, Riemenschneider; auch französische Staatsangehörige in Zivil befanden sich unter ihnen“[6] – und riefen, wer hier geschossen habe.“ Im Bericht eines Gendarmerie-Hauptwachmeisters heißt es: „Mit vorgehaltener Waffe verlangten die Schurken die Herausgabe unserer Waffen. Als ihnen dies verweigert wurde, wagten sie sogar bei einzelnen Beamten, nach der Waffe zu greifen, um sie ihnen zu entreißen. Sämtliche Beamte lehnten natürlich die Abgabe der Waffen ab und ließen sich auch nicht durch Drohungen mit vorgehaltenem Revolver hierzu verleiten. Wir erklärten ihnen, daß wir die Waffen nur auf Befehl unserer vorgesetzten Behörde abgeben würden und nur an die Behörde.“[7]

In dieser Lage konnte nur noch die „kaltblütigste“ Haltung einen Rettungsversuch unternehmen – „der Provinzialdirektor Geheime Rat Dr. Usinger[8] und sein Besatzungsreferent, Oberregierungsrat Strecker“ versuchten ihr Glück. Sie baten „die Führer der Separatisten“ – Dr. Roth und den Ingenieur Feldhofen – zwecks Verhandlungen „in den links des Eingangs gelegenen Sitzungssaal“. Das Ziel dabei war, „Zeit zu gewinnen und die Führung der Separatisten einzuschüchtern.“ Fürs erste hatten sie Erfolg, weil Feldhofen, der sich „als militärischer Führer“ aufspielte, „sehr rasch unsicher wurde, als ihm von deutscher Seite ausgeführt wurde, dass seine Annahme, die separatistische Bewegung sei im ganzen Gebiet erfolgreich und die Machtübernahme als geglückt anzusehen, irrig sei. Feldhofen erklärte sich darauf bereit, die separatistischen Angriffe in Mainz sofort abzublasen.“

Oberregierungsrat Strecker ging mit den Separatistenführern zum Stadthaus, um mit dem stellvertretenden Oberbürgermeister Dr. Wilhelm Ehrhard[9] weiter zu verhandeln und den separatistischen Angriff auf das Kreisamt möglichst ins Leere laufen zu lassen. Aber die Dynamik der Verhältnisse ließ dies nicht zu. Provinzialdirektor Dr. Usinger wurde unterdessen von den zurückgebliebenen Separatisten im Kreisamt in sein Büro verbannt und bewacht. Auf Befehl „von Herrn Regierungsrat Walther“ mussten die Polizisten und Gendarmen ihre Waffen nach wiederholtem Drängen „im Vorzimmer Spirals im ersten Stock […] trotz heftigen Protestes […] gegen eine Empfangsbescheinigung ablegen.“ Anschließend wurden sie „durch die Umbach“ des Hauses verwiesen. Ein Gendarm war neugierig, was sich noch ereignen würde, und blieb im Flur stehen. Ein Separatist, auf ihn aufmerksam geworden, schrie ihn an, was er hier zu suchen hätte, worauf er ihm die Frage zurückgab, „was er hier zu suchen hätte“. Der Separatist verlangte von dem Gendarm, dass er wie seine Kollegen „das Haus durch die Umbach verlassen sollte“, was dieser „energisch verweigerte.“ Er sei „vorn hereingekommen und würde das Haus auch nur durch die Vordertür verlassen. Ein Wort gab das andere, bis einer rief: ‚Mach’ uff, lass’ den gehen!’“

Wie es am Abend dieses Tages im Kreisamt aussah, schilderte ein Regierungsassessor, der das Haus betrat, um sein Privateigentum, einige Bücher, Aktenmappe etc.“ mitzunehmen und der „völlig unbeanstandet“ hereingelassen wurde: „Auf den Fluren, Gängen und Treppen lagen die zerlumpten(,) schmutzigen und müden Gestalten des ‚rheinischen Militärs’ herum, sodass man über die schlafenden Menschen hinweg steigen musste […] Unangefochten kam ich wieder aus dem Haus heraus.“ Bis zum Abzug der Separatisten im Februar 1924 betrat der Regierungsassessor das Kreisamt nicht mehr.[10]

Chaotische Verhältnisse im Kreisamt während der Besetzungszeit schilderte auch ein weiterer Zeuge. Im Sitzungssaal sei eine Ladung Stroh ausgebreitet worden, auf das sich „20-30 Franzosen, die dort die Wache bezogen hatten“, lagerten. Im Hofe des Kreisamtes „standen französische Maschinengewehre und Posten. Separatisten lagen mit Gewehr im Anschlag in den Kellergängen. Französische Proviantwagen brachten die Verpflegung. In der Waschküche wurde gekocht, Tag und Nacht. Auch wurde ein Schwein geschlachtet im Hof, das im Personenauto des Kreisamts angefahren wurde. „Nicht nur die im Kreisamt anwesenden Separatisten wurden verpflegt, sondern auch alle auf dem Durchmarsch nach anderen Orten befindlichen Separatisten, sodass es Tag und Nacht auf dem Hofe des Kreisamtes keine Ruhe gab. Brot lieferte der Bäckermeister Eckel aus der Quintinsgasse, aber auch bei anderen Bäckern wurde Brot ‚requiriert’. Vielen Separatisten war anscheinend die Verpflegung das Wichtigste und ihre Sorge war gross, wenn der Fouragewagen einmal länger ausblieb.“ An anderer Stelle heißt es: „Kälber, Rinder, Schweine wurden den Bauern von Bauschheim-Ginsheim aus dem Stall geholt(,) im Kreisamt abgeschlachtet und an die Separatisten und Anhänger verteilt. Ackten(!) wurden verbrannt(,) Tischschubladen aufgebrochen(,) Kleider mitgenommen.“[11]

Am deutlichsten drückte sich die Gewaltsamkeit der Situation aus in nächtlichen Schreien „von Leuten, die im Hofe verprügelt wurden.“ Einen konkreten Fall schilderte die Frau des Hausmeisters im Kreisamt. So habe „einmal ein Mann in einem Bedürfnishäuschen zu einem Bekannten eine abfällige Bemerkung über die Separatisten gemacht. Ein Separatist hatte dies gehört und der Mann, der die Bemerkung gemacht hatte, wurde so misshandelt, dass man am andern Tag noch im Schnee die Blutspuren sah. Die Hilferufe des Misshandelten klingen mir jetzt noch in die Ohren.“

Die Besetzung des Kreisamtes war nur eine Aktion, um möglichst die gesamte Stadt Mainz unter separatistische Kontrolle zu bringen und von Mainz aus das Rheinland zu erobern und zu beherrschen. So vermelden die Akten für den 23. Oktober 1923 auch einen Straßenkampf in der Löhrstraße zwischen Separatisten und Gewerkschaftsleuten sowie Einwohnern der Löhrstraße, an dessen Ende sechs Tote und Verletzte durch Dum-Dum-Geschosse zu beklagen waren.[12] Am 26. November 1923 machte ein Kriminaloberwachtmeister dem Polizeiamt Meldung, dass ihm „von zuverlässiger Seite […] mitgeteilt“ wurde, „dass die Separatisten beabsichtigen würden, sich des Geschäftshauses Firma Tietz, welches sich gegenüber dem Stadthaus befindet, zu bemächtigen.“ Von dort solle „dann ein Angriff auf das Stadthaus unternommen und dieses besetzt werden.“[13] So weit kam es nicht, schon Anfang des Jahres 1924 versiegten dem Separatismus die Kräfte, weil ihm der Rückhalt in der Bevölkerung fehlte. Die Räumung des Kreisamtes war mit ein Signal zur Beendigung des Separatismus in Mainz, auch wenn es noch unter französischer Besetzung stattfand. Aber auch die französische Herrschaft am Rhein veränderte sich dadurch und nahm eine mäßigere – wenn man so will: „auslaufendere“ – Form an.

Einen anschaulichen Bericht über die Ereignisse des 9. Februar 1924, als das Kreisamt endgültig von Separatisten geräumt wurde, hat der Polizeihauptwachmeister Ernst Dennig verfasst. Darin zeigt sich, dass die Kräfteverhältnisse mittlerweile zwar zugunsten der Separatistenfeinde – die sich in diesem Punkt weniger als Mainzer, denn als deutsche Patrioten empfanden – verschoben waren, aber die fortdauernde französische Besetzung der Stadt die „Befreier“ des Kreisamtes bei aller letztlichen Entschiedenheit ihres Handelns auch unsicher Ausschau halten ließ, wie die Besatzungsmacht auf sie reagieren würde.

Schon Wochen vor der Räumung des Kreisamtes waren Polizeiposten rund um die Uhr vor den beiden Eingängen des Gebäudes im Umbach und der Schillerstraße postiert gewesen zur Beobachtung der Separatisten und zur Verhütung von Diebstahl, wie etwa Schreibmaschinen. Am 9. Februar 1924, gegen 7.15 h, fasste Polizeihauptwachmeister Felten dann den Entschluss, das Gebäude durch das zufällig offen stehende Tor am Umbach zu betreten; ein mutiger Entschluss, weil zum Schutz der Separatisten eine französische Wache, „bestehend aus einem Sergeanten und zirka 20 Soldaten“ abgestellt war. Das Verhalten Feltens nahm sich sein Kollege Ernst Dennig zum Vorbild und betrat ebenfalls das Kreisamt. Er traf Felten „im Haupteingange Schillerstraße, zwischen Sitzungssaal und Telefonzentrale“. Auf einem Stuhl saß ein französischer Posten, der „sein Gewehr aufgepflanzt zwischen den Beinen hatte“, aber keinen Gebrauch davon machte. In der Telefonzentrale waren „7 – 8 Separatisten“ zu sehen, „Felten rief jetzt diesen zu ‚Hände hoch’, was sie auch gleich befolgten.“ Die Überraschung war so groß, dass die Separatisten auch der Aufforderung, „das Gebäude zu verlassen“, nachkamen und sich dabei einer von ihnen auf Befragung noch zur Auskunft bereit fand, „daß links im Gange im zweiten Zimmer rechts,(!) der Hauptführer Siebenhühner liege.“[14] Mit einem dritten Polizeihauptwachmeister namens Knies, der Phw Felten und Phw Dennig verstärkt hatte, betrat das Trio „das uns bezeichnete Zimmer. Knies machte noch die Bemerkung ‚Hier stinkt’s nach Käs’. Siebenhühner lag mit Hosen und Hemd bekleidet auf einem Feldbett und schlief. Da er unseren Ruf ‚Aufstehen!’ nicht hörte, stieß Felten ihm mit der Säbelscheide in die Seite. Darauf sprang er ganz verstört und überrascht auf.“ Zur Ankleide aufgefordert, sollte er die grün-weiß-rote Separatisten-Fahne auf dem Dach des Kreisamtes einziehen. Er leistete auch hier wieder Folge, aber als er die Fahne herausgeben sollte, weigerte er sich. „Felten sagte zu mir ‚Laß ihn nur gehen, die Fahne bekommen wir schon’. Im Erdgeschoß angekommen, versuchten wir sofort(,) ihm die Fahne zu entreißen. Er wehrte sich mit allen Kräften, riß seinen Rock auf und sagte(,) mit der Hand auf seine Brust und die Fahne deutend: ‚Hier ist meine Brust und hier die Fahne und für diese Fahne sterbe ich’. Ich sagte zu ihm, er solle nicht so dummes Zeug sprechen. Beim weiteren Versuch(,) ihm die Fahne zu entreißen, schlug er Felten in’s Gesicht. Auch zerriß die Fahne etwas. Felten zog jetzt blank und hieb mit dem Säbel auf ihn ein.“[15] Ein Zivilist kam hinzu, beteiligte sich an dem Kampf und gab sich nicht früh genug zu erkennen, sodass er von Felten auch einen Schlag versetzt bekam. „Jetzt erklärte er uns, daß er der Heizer und Telefonist Christoffel vom Kreisamt sei. Ich sagte darauf zu ihm, warum er dies nicht gleich gesagt habe, den Schlag hätte er sich doch sparen können. Es gelang uns jetzt(,) Siebenhühner die Fahne zu entreißen.“ Der französische Posten mit dem aufgepflanzten Gewehr zwischen den Beinen rührte sich noch immer nicht und sah der aufregenden Szene nur zu. Siebenhühner bekam Handschellen angelegt und sollte „nach der Wache des 4. Polizeibezirks“ abgeführt werden. Die grün-weiß-rote Armbinde wollte er anbehalten, auch auf die Gefahr hin, von der „erregten Menge, die draußen vor dem Gebäude stand“, angegriffen zu werden. Nach der Vorführung begab sich Phw Ernst Dennig „sofort wieder in das Kreisamtsgebäude“, wo er „die überraschten Gesichter der französischen Offiziere und Zivilisten“ wahrnahm, „die dort beschäftigt waren und uns ganz erstaunt ansahen. Ohne ein Wort zu sagen(,) begaben sie sich mit wutentbranntem Gesichtsausdruck in ihre Büros.“ Die französische Wache wurde abgezogen, die Besetzung des Kreisamtes durch Separatisten war beendet.[16]

 

Zwei Folgen des tragischen Ereignisses um Léonard Constant, die in unterschiedlichen Graden Verwunderung hervorrufen könnten, sollen nun beschrieben werden: die Entschädigungsforderung an die Stadt Mainz und das Gerichtsurteil gegen den Täter.

[1] Hier wie im ganzen Exkurs, auch in den Fußnoten: Stadtarchiv Mainz, NL Schreiber 71, Einzug der Separatisten ins Kreisamt – 23.10.1923, Räumung des Kreisamts von Separatisten – 9.2.1924.

[2] Der Verwaltungsassistent Schaum beklagte sich in einem Bericht vom 12. April 1934, dass die Beamten des Kreisamtes „vergeblich auf Direktiven“ zur Verteidigung des Kreisamtes gewartet hätten. „Wir wurden leider vollständig im Dunkeln gelassen.“

[3] Hervorhebungen nicht im Original.

[4] Im Erlebnisbericht eines Regierungsassessors heißt es in diesem Zusammenhang, dass „am 22. Oktober 1923 gegen abend […] bei dem Herrn Landeskommissar für das besetzte hessische Gebiet [= Geheimrat Dr. Karl Usinger. Anm. J.Ch.] eine schriftliche Note des französischen Oberdelegierten für die Provinz Rheinhessen“ eingelaufen sei, „in der gesagt war, dass jedwedes Blutvergiessen unter allen Umständen vermieden werden müsse. Die strengsten Strafen würden gegen die verantwortlichen Behördenleiter und deren Untergebene ergriffen werden, die den Tod eines Menschen aus Mangel an Kaltblütigkeit(!) oder aus Unkenntnis der gegebenen Befehle provoziert hätten.“ Der Regierungsassessor kommentierte: „Diese Note wies bereits darauf hin, dass für den kommenden Tag etwas aussergewöhnliches geplant war.“

[5] Der Augenzeuge Gendarmeriehauptwachmeister Naffin äußerte am 27. Februar 1934 in einem Bericht, dass „die feigen Kerle“ es nicht wagten, gleich hereinzukommen, sondern sich erst ängstlich im Raum umgesehen hätten, „sodass ich heute noch behaupte, man hätte die Besetzung des Kreisamtes verhindern können, wenn wir hätten handeln können, wie wir es am liebsten getan hätten.“

[6] Im Bericht des Verwaltungsassistenten Schaum ist auch von Frauen der Separatisten die Rede, die sich im Kreisamt aufgehalten hätten. So habe er selbst gehört, wie eine von ihnen in Bezug auf die wütende Menge vor dem Kreisamt sagte: „Das Volk ist sehr aufgebracht. Warum habt ihr das gemacht? Ihr werdet totgeschlagen.“

[7] Hervorhebung nicht im Original. Polizeihauptwachmeister Tröstrum schrieb in seinem Bericht vom 7. Februar 1934: „Später, nachdem mit einem höheren Beamten des Kreisamts verhandelt worden war, mussten wir unsere Waffen (Säbel, Revolver) gegen Empfangsbescheinigung bei den französischen Delegierten abgeben, wiederbekommen haben wir dieselben nicht.“

[8] Karl Usinger (1864-1932) wurde am 1. Februar 1922 Provinzialdirektor der Provinz Rheinhessen in Mainz und Kreisdirektor des Kreises Mainz sowie Landeskommissar für die besetzten hessischen Gebiete; dieses Amt behielt er über seine Ruhestandsversetzung wegen Erreichens der Altersgrenze am 30. Juni 1929 bis zum Abzug der französischen Besatzungstruppen genau ein Jahr später am 30. Juni 1930 bei. (Stadtarchiv Mainz, ZGS/A, Usinger)

[9] Wilhelm Ehrhard (1884-1936) vertrat 1923/24 als ehemaliger engster Mitarbeiter des ausgewiesenen Mainzer Oberbürgermeisters Karl Külb (1870-1943) stellvertretend dessen Amt. Von 1931 bis zum 26. März 1933 war er Oberbürgermeister von Mainz; im Zuge des „Ermächtigungsgesetzes“ wurde er abgesetzt.

[10] Der Dienstbetrieb wurde in Ausweichstellen in der Klarastraße und Kaiserstraße bald wieder aufgenommen, „allerdings ohne alle Vorakten“.

[11] Unterstreichungen im Original. – Der Vandalismus nahm noch abstoßendere Formen an, wie die Quellen belegen.

[12] Vgl. StA Mainz NL Schreiber / 76.

[13] StA Mainz, NL Schreiber 73, Polizeimeldungen und Schriften aus der Separatistenzeit 1923/24.

[14] Im Bericht des Polizeihauptwachmeisters Graffy nimmt sich die Episode so aus: „Als wir weiter vordrangen, hörten wir aus der Telephonzentrale laute Stimmen. Felten sprang hinein und rief: „Hände hoch!“ Ich machte die zur Schillerstrasse führende Eingangstür auf und wir jagten die infolge dieser Ueberraschung vollständig sprachlosen 8-10 Separatisten hinaus. Der Schreck war ihnen so in die Glieder gefahren, dass sie wie die Hasen davonliefen.“

[15] Kriminalhauptwachmeister Hans Felten hat die Situation am 6. Februar 1934 in einem Bericht selbst beschrieben: „Siebenhühner […] machte Schwierigkeiten und widersetzte sich, wobei er mir in das Gesicht schlug. Dies war für mich insoweit wertvoll, als ich nun gegen ihn vorgehen konnte, wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt, die wir ja immer noch rechtmässig verkörperten. Die separatistische war für uns nicht massgebend. Siebenhühner wurde dann von mir gefesselt und nach dem 4. Pol.-Bezirk verbracht und dort in die Arrestzelle verbracht. Später wurde er dem Polizeiamt zugeführt, aber bald wieder entlassen, weil man dort mehr als Angst hatte.“

[16] Nach dem Abzug der französischen Besetzer aus Mainz am 30. Juni 1930 kam es zu Verfolgungen rheinischer Separatisten, was sich in der NS-Zeit fortsetzte. Publizistisch fand dieser Sachverhalt Niederschlag etwa in dem Buch „Hochverrat des Zentrums am Rhein. Neue Urkunden über die wahren Führer der Separatisten“ von Franz Walther Ilges und Hermann Schmid. Berlin 1934.

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