„Die Natur war aber stärker“ – Auguste L. (1916-2012), letzter Teil


„Die Natur war aber stärker“ – Auguste L. (1916-2012), letzter Teil

 

In dieser Zeit verfasste ihr Rechtsanwalt am 9.10.1944 ein Gesuch an die Oberstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main „um bedingte Strafaussetzung“. Seine Argumente um die desolate familiäre Situation mit dem kranken Vater und drei kleinen Kindern stützte er wieder mit einem ärztlichen Attest über den angegriffenen Gesundheitszustand Philipp W.s; einer Bescheinigung des Ortsbauernführers und einem Schreiben des Landrats von L. (das „infolge der derzeitigen Postverbindung bis jetzt nicht bei mir eingegangen ist“). Die „Zweitschrift“ des Landrates, vertreten durch das Kreisjugendamt, vom 23.9.1944 bescheinigt in wenigen Sätzen, dass Auguste L. in ihrer Familie unentbehrlich war: „Auf Grund der örtlichen Nachprüfung durch die Gesundheitspflegerin D. vom Staatlichen Gesundheitsamt in D. wird hiermit bestätigt, daß die Witwe Auguste L. geb. W. zur Beaufsichtigung, Erziehung und Pflege ihrer drei minderjährigen Kinder im väterlichen Haushalt in B. unbedingt notwendig ist. Eine geeignete Persönlichkeit, die den Haushalt führen und die Betreuung der Kinder übernehmen kann, ist zur Zeit nicht vorhanden. Die bisherige Versorgung durch ein Pflichtjahrmädchen war unzureichend.“

Der „Gauleiter“ des „Gaus Hessen-Nassau“, Jakob Sprenger, sandte dem Oberstaatsanwalt in Frankfurt am Main am 27.11.1944 einen ablehnenden Bescheid[1]:

„Die mir am 2.11.44 überlassenen Gnaden- und Strafakten reiche ich anliegend zurück. Nach den angestellten Ermittlungen sehe ich hierseits keinen Anlass, das Gesuch zu befürworten. Ich nehme dieserhalb Bezug auf meine bereits am 19.2.44 übermittelte Stellungnahme. Die Bevölkerung hätte für einen Gnadenerweis auch heute kein Verständnis.“

Am 11.12.1944 schrieb der Oberstaatsanwalt an RA H. und Auguste L.:

„Nach Prüfung des Gesuches habe ich keine Veranlassung, Ihnen bedingte Strafaussetzung zu bewilligen.

Auf Grund der mir in § 17 Abs. (1) der Gnadenordnung erteilten Ermächtigung lehne ich das Gesuch hiermit im Namen des Herrn Reichsministers der Justiz ab.“

Am 3.1.1945 stellte sich Auguste L. zum letzten Kapitel ihrer Strafverbüßung im Zuchthaus Ziegenhain. Diese letzte Phase ihrer Gefangenschaft ist gekennzeichnet durch das Beharren der Oberstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main auf Strafverbüßung und dem Versuch ihrer Fürsprecher, den Erlass der Reststrafe auf dem Gnadenweg zu erlangen. Die Argumente der Fürsprecher Auguste L.s konnten mit zunehmender Strafdauer nur gewichtiger werden.

Ein Schreiben der Gerichtskasse Frankfurt am Main vom 16.2.1945 an die Geschäftsstelle der Staatsanwaltschaft Frankfurt zählt die Schulden Auguste L.s in Höhe von 1196,62 RM auf. Anzunehmen ist, dass die Gefangene diesen Betrag nicht mehr erstatten musste, weil der Staat, der ihn eintreiben wollte, in Auflösung begriffen war.

Am 13.3.1945 verfasste der Rechtsanwalt Auguste L.s ein Gesuch an die Oberstaatsanwaltschaft beim Landgericht Frankfurt am Main, dem ein drängend-ungeduldiger Tonfall anzumerken ist:

„[…] bitte ich nunmehr über mein erneutes Gesuch um Erlass der Reststrafe zu entscheiden und die Angeklagte aus der Haft zu entlassen. Ich habe schon früher vorgetragen, dass die Angeklagte vor allem in der Landwirtschaft ihres Vaters dringend benötigt wird. An den Verhältnissen im Elternhaus der Angeklagten hat sich bis heute nichts verändert und die Angeklagte wird bei der nun einsetzenden Frühjahrsbestellung in dem Betrieb ihres Vaters unbedingt gebraucht. Aus diesem Grunde bitte ich bald möglichst dem diesseitigen Gesuche stattzugeben. Die Angeklagte hat von ihrer Gesamtstrafe von 2 Jahren doch nunmehr fast 17 Monate verbüsst.“

Auch der Vorstand der Zuchthäuser Ziegenhain befürwortete am 14.3.1945 in einer „Urschr. m. Gnadenakten“ an den Oberstaatsanwalt in Frankfurt am Main „den Erlaß einer Reststrafe von 6 Monaten“ und begründete dies mit der „weiterhin tadelfreien“ Führung und dem „Fleiß der Verurteilten“. Ihre Straftat bereue „sie aufrichtig.“

Am 27.3.1945 wurde Auguste L. endgültig aus der Strafhaft entlassen.

 

Epilog, unvollendet

 

Die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main, die in der NS-Zeit Auguste L.s Verurteilung betrieben und sich ihren Strafunterbrechungs-und Straferlass-Gesuchen nur sehr zögerlich gegenüber verhalten hatte, war es auch, die am 18.6.1946 verfügte, dass „die Tat, wegen der [Auguste L.s] Verurteilung erfolgte […] nicht mehr strafbar“ sei. „Die Reststrafe von sieben Monaten und 22 Tagen Zuchthaus wird erlassen.“ Am 30.4.1947 bescheinigte die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main, dass „das Urteil des Sondergerichts vom 21. September 1942 aufgehoben“ sei. Der Rechtsanwalt Auguste L.s, Joseph H., stellte bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main am 25.2.1950 den Antrag

  • auf Erlass der Strafe, die gegen sie durch Urteil des Sondergerichts am Main am 21. September 1942 […] erkannt wurde.
  • Auf Streichung der Strafe, die gegen sie erkannt wurde(,) im Strafregister“.

Der Rechtsanwalt erwähnte auch Haftentschädigungsansprüche, die bis zum 31. März 1950 angemeldet sein müssten und um derentwillen er „für beschleunigte Erledigung der Sache“ – gemeint war eine Haftzeitbescheinigung – „dankbar“ sei. Aus der Akte […] des Hessischen Hauptstaatsarchivs Wiesbaden geht nicht mehr hervor, welcher Erfolg etwa den Haftentschädigungsansprüchen beschieden war.

 

 

Anhang

 

„Der Oberstaatsanwalt

bei dem Landgericht

Abwicklungsstelle für

Strafgef. Ffm.-Preungesheim

-4/6 SMs 60/42

 

Frankfurt am Main, den 6.3.1950

 

 

Haftzeitbescheinigung

 

Laut vorliegenden Strafakten 4/6 SMs 60/42 des Sondergerichts Frankfurt am Main wird bescheinigt, dass die Witwe Auguste L., geb. W., geboren 27.10.1916 in B. […], 1942 dort wohnhaft gewesen

  • vom Amtsgericht Diez/Lahn eingeliefert –
  • vom 28.8.1942 bis 16.9.1942 im Gerichtsgefängnis L.,
  • vom Gerichtsgefängnis L. eingeliefert –
  • vom 16.9.1942 bis 23.9.1942 im Polizeigefängnis Frankfurt/M.,
  • vom Polizeigefängnis Frankfurt am Main eingeliefert –
  • vom 23.9.1942 bis 3.10.1942 im Frauengefängnis Ffm-Höchst,
  • vom 3.10.1942 bis 5.10.1942 auf Transport,
  • vom 5.10.1942 bis 1.4.1943 im Frauenzuchthaus Ziegenhain,
  • vom 1.4.1943 bis 10.12.1943 Strafunterbrechung,
  • zur weiteren Strafverbüssung gestellt am 10.12.1943 –
  • vom 10.12.1943 bis 25.6.1944 im Frauenzuchthaus Ziegenhain,
  • vom 25.6.1944 bis 3.1.1945 Strafunterbrechung,
  • zur weiteren Strafverbüßung gestellt am 3.1.1945 –
  • vom 3.1.1945 bis 27.3.1945 im Frauenzuchthaus Ziegenhain

wegen verbotenen Umgangs mit einem Kriegsgefangenen eine Zuchthausstrafe verbüsst hat und am 27.3.1945 aus der Strafhaft entlassen worden ist.

 

I.A.

(Lattermann)

Staatsanwalt“

 

[1] Ein Hinweis auf die Zusammenarbeit zwischen Politik und Justiz im NS-Staat.

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