Die Reise nach Mainz – 4. Teil


Die Reise nach Mainz – 4. Teil

An schönen Sommertagen holte sie mich mit dem Rad ab, dann radelten wir in die Stadt und am Rhein entlang bis Ingelheim oder Bingen, meine liebsten Strecken, manchmal fuhren wir auch zum Sonnenbaden auf die große Wiese am Winterhafen.

Einmal sprang Rosa, kaum, dass wir auf der Wiese angekommen waren, aus ihren Kleidern und ins Wasser und verschwand augenblicklich unter einer Welle, die von einem Motorboot kam, das direkt an Rosa vorbei schoss. Ich dachte, sie sei ertrunken, schrie, war völlig verzweifelt, da tauchte Rosa aus dem Wasser auf und winkte mir fröhlich zu. Später, als wir nebeneinander im warmen Gras lagen, erzählte sie mir Geschichten vom Leben am Wasser, seinen Gewissheiten, den Ungewissheiten, und wie sie als Kind einmal bei Hochwasser ihre Verwandtschaft in Laubenheim besucht hatte, im Kanu über die Rheinwiesen gerudert und dabei zwei Schwänen begegnet war.

Abends, wenn sich unsere Wiese zu leeren begann, wenn sich die Dunkelheit schützend über uns ausbreitete, liebten wir uns, frei, ungezwungen. Im Inter I war ich immer etwas gehemmt, der dünnen Wände wegen, hier aber wurde ich erwachsen.

Rosa erklärte mir die Dialektik unseres Tuns. Äußere Freiheit erzeuge innere Freiheit, sagte sie, und nur ein freier Mensch könne frei handeln. Ich hatte gelegentlich bei dem, was sie sagte, so meine Zweifel, aber die behielt ich für mich. Ich sagte ihr, das mir ihre Stimme gefalle, ihr Lachen, wenn sie lache.

Waren wir ein Liebespaar?

Ich kann diese Frage weder mit ja noch mit nein beantworten, wenn ich es recht bedenke. Damals bedeutete verliebt sein, oder jemanden lieben, nichts, über das man sich schwerwiegende Gedanken machen wollte. Flügelleicht sollte die Liebe sein und nur dem Augenblick verpflichtet.

Wenn wir an warmen Abenden mit Baguette, Rotwein und Käse auf den Treppen der Uferpromenade am Rhein saßen und davon träumten, wir seien in Frankreich oder Italien, wenn Rosa plötzlich Lust auf ein Eis bekam, und ich ihr eins schenkte, an dem wir von beiden Seiten schleckten, bis sich unsere Zungen berührten, war mir immer nur wichtig, was gerade passierte. Das Nachher interessierte mich nicht. Sicher, mich plagte hin und wieder die Eifersucht, weil ich befürchtete, Rosa könnte sich außer mir auch mit anderen Jungs treffen, aber derartige Gedanken schob ich immer ganz schnell zur Seite, ehe sie mich völlig fertig machen konnten.

Seltsamerweise habe ich damals nie darüber nachgedacht, ob ich mit Rosa alt werden wollte, wie es ja so schön heißt. Ich hätte mir damals auch nicht vorstellen können, dass Rosa alt werden könnte.

In unserem ersten und einzigen Sommer ordnete Rosa an, dass wir, wenn wir nicht auf dem Campus waren, auf den Plätzen der Stadt lebten, ja sogar draußen schliefen. Für mich war es eine ganz neue und deshalb wunderbare Erfahrung, wenngleich meine Strebsamkeit in Studiendingen darunter deutlich litt.

Eines Nachmittags auf der Uferpromenade, vom Dom her kam ein feierliches Geläute, sagte Rosa: „Bestimmt heiratet da gerade jemand.“

„Heiraten ist etwas für Spießer“, sagte ich und nahm an, sie sehe das genauso.

Rosa musterte mich nachdenklich. „Ich würde unheimlich gerne heiraten“, sagte sie. „Heiraten ist was Schönes. Wenn man nur wüsste, wen, und ob´s hält. Nur in einer Kirche würde ich nicht heiraten. Auf einem Schiff, einem, wie dem da, das wäre bestimmt lustig.“

Sie zeigte auf eine stattliche Segeljacht, die auf den Jachthafen zusteuerte. „Und ein großes Fest, das wollte ich auch. Jeder könnte kommen, wie er das für richtig hält.“ Rosa seufzte. Sie hatte nur Augen für das Segelboot.

„Ein Schiff…, ich weiß nicht. Auf einem Schiff wird mir immer schlecht. Außerdem, ich dachte, linke Politik und Heiraten, das passt nicht zueinander.“

„Jetzt redest du wie ein Papagei“, sagte Rosa verärgert.

Ich war bestürzt. Sie sah mich nicht eine Sekunde an, sie sah nur das Segelboot.

„Das Boot da … Woher kommt es wohl?“, wollte sie wissen.

„Aus Holland.“

„Woher willst du das wissen?“

„Der Wimpel am Heck …, man erkennt daran das Land, aus dem ein Schiff kommt.“

„Ach ja…“

Plötzlich wollte ich weg vom Fluss, weg von der Anziehungskraft dieses stolzen Segelboots, doch Rosa lief ihm längst entgegen, um es sich genauer anschauen.

Am nächsten Tag waren Rosa und die Jacht verschwunden.

Die Lorely Star hatte inzwischen an der Anlegebrücke festgemacht. Ich sah auf meine Uhr. Bis zum Treffen mit meinen ehemaligen Kommilitonen, mit Rosa, blieben mir noch ungefähr zwei Stunden. Die wollte ich nutzen, um mich ins Café auf der Rathausplattform zu setzen und zu überlegen, wie ich Rosa entgegen treten, was ich ihr von mir, meinem Leben, erzählen wollte. Ich malte mir aus, wie Rosa aussah, was aus ihr geworden war, allein, es wollte mir nicht gelingen, mir die heutige Rosa vorzustellen. Ich sah immer nur das wandlungsfähige Mädchen von damals Nie zuvor, nie mehr danach, habe ich so viel Vitalität bei einer Frau erlebt.

Ich ging als letzter von Bord, ging die wenigen Stufen zur Rathausplattform hoch, den Blick auf das Café gerichtet, wo ich mir einen Platz mit Blick auf den Rhein erhoffte.

Und da sah ich sie.

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