EINE HOMMAGE AN DIE LITERATUR


EINE HOMMAGE AN DIE LITERATUR
Der Roman Ein Herbst auf dem Land von Berndt Schulz

Es gibt Themen, die einen Autor nicht loslassen. Für den aus Berlin stammenden und seit einigen Jahren in der nordhessischen Provinz lebenden Schriftsteller Berndt Schulz ist es das Thema Stadtleben – Landleben. Bereits 2019 legte er den Episodenroman Schöne grüne Welt vor, Verlag edition federleicht. Auch dieses Werk handelte von den „Schwalmgegenden“, von stadtgewohnten Menschen, die in dörflichen Landschaften ungeahnte Erfahrungen machen. Für den Verfasser des im Oktober 2021 wiederum in der edition federleicht erschienenen Buches Ein Herbst auf dem Land gilt, was er den Protagonisten Johannes Beiner, ebenfalls aufgewachsen in Berlin, sagen lässt: „Ich finde, es geht gar nicht mehr um den Gegensatz von Stadt und Land. Das gleicht sich an. Ich sehe die Abgründe im Alltag, hier wie dort. Man lebt auch auf dem Land in einer Welt, die seltsamer ist, als wir es uns überhaupt vorstellen können.“ (183) Und: „Kampf ist überall. Warum sollte es auf dem Land anders sein?“ (184)

Von welchen Abgründen, welchen Seltsamkeiten erzählt Berndt Schulz in seinem jüngsten Werk? Der Ich-Erzähler, jener Johannes Beiner, „Jäger verlorener literarischer Schätze“ (13, 210), übernimmt den Auftrag der Stiftung „Literatenkolonie Wolfsland-Schwalm“, sechs Stipendiaten im Handwerk des Schreibens zu unterrichten. Die Intention der Stiftung besteht darin, dass die Studentinnen und Studenten „die Schönheit der unverbrauchten Landschaften in leuchtenden Sätzen malen und damit Stoff für die Werbekampagnen der Region liefern“. (12) Eine einhundertfünfzigjährige Tradition der Literatenkolonie soll auf diese Weise wiederbelebt werden. Konkret geht es um die „geheimnisvolle Dichterin“ Rebekka von dem Gawein, seinerzeit die einzige Frau des Dichtertreffens, die, „aus altem eichsfeldischen Adel“ (14), plötzlich spurlos verschwunden war. Nach ihr soll der Pädagoge forschen, um nach erfolgreicher Suche deren Leben und Wirken touristisch vermarkten zu können. Zugleich verspricht sich Johannes Beiner, der in Trennung von seiner Gefährtin Hannah lebt, durch die Annahme und Durchführung des Auftrages die Verarbeitung  seines „eigenen, verfahrenen Lebens“ (15), das er als „chaotisch und rastlos“ (16) betrachtet.

Viel Überraschendes, Verwirrendes und Spannendes begegnet dem früheren Mitarbeiter des Frankfurter Hochstifts bei seinen Versuchen, die ihm gestellten Aufgaben zu bewältigen. Wie eine Begleitmusik durchzieht die fünf Kapitel des 238 Seiten umfassenden Romans das Motiv des Fluges der Kraniche. Der Autor, selbst ein bekennender „Kranichfan“ (7), lässt die Vögel im Buch als anrührende Sehnsuchtsvögel, „Sonnenvögel“ (18), „Sendbote(n) des Glücks“ (58), gar als „Boten der Götter“ (20) auftreten. „Kraniche sind Erzähler“, heißt es im Text. „Sie erscheinen am sonnenüberfluteten Himmel und wollen uns eine Geschichte erzählen.“ Sehnsüchtig bleiben wir zurück. „Und eines Tages sind sie wieder da! Sie erzählen von all ihren Reisen.“ (80)

Geschickt stellt uns Berndt Schulz nach und nach sein Roman-Personal und die jeweiligen Rollen vor. Raffiniert baut er Spannung auf und hält sie bis gegen Ende des Buches aufrecht. Immer wieder durchkreuzen Andeutungen, Fragen, Zweifel und Warnungen den Fortgang des Geschehens. Handelt es sich beim Verschwinden der Poetin Rebekka von dem Gawein um etwas „Spektakuläres“, womöglich „sogar ein Verbrechen“ (15), wie Dirk Rosskopf, Bio-Bauer und Mühlenbesitzer, andeutet? Und über die Gedanken Johannes Beiners lesen wir: „Was war damals tatsächlich geschehen? Ich fragte mich beständig, wer bisher ein so starkes Interesse daran gehabt hatte, es in den Verließen vergangener Zeiten einzuschließen.“ (21) Nach immerhin zwei Dritteln des Buches grübelt er: „Was hatte ich überhaupt bis jetzt erreicht?“ (162) Und: „Es war seltsam, aber es existierte so wenig über diese Autorin, dass man zweifeln konnte, ob sie überhaupt gelebt hatte.“ (156) Der Pfarrer, der „Aufklärung“ für „Teufelswerk“ hält, warnt Beiner: „Manchmal tut man zuviel […] seien Sie vorsichtig, überlegen Sie genau, was Sie tun.“ (104)

Wird der Lehrer bei seinen Recherchen fündig werden? Es existiert eine Erzählung der Dichterin, Kein einziges Wort, 1818 erschienen und in Ein Herbst auf dem Land im Anschluss an das fünfte Kapitel abgedruckt, sowie ein einziges veröffentlichtes Buch von ihr mit dem Titel: Die unglückliche Poetin. Unter dieser Bezeichnung wird mehrfach im Roman von der auf rätselhafte Weise Verschwundenen gesprochen. Die Buch-Publikation wird bezeichnenderweise „im Hochsicherheitstrakt des Zuchthauses von Ziegenhain“ (146) aufbewahrt. Das Erscheinungsjahr: 1839. Es ist das gleiche Jahr, in welchem das dreihundertjährige Jubiläum der reformatorischen Kirchenzucht, des Wappnens der Gemeinden gegen die „höllischen Wölfe“ (126), gefeiert wurde. War die Dichterin den kirchlichen und staatlichen Stellen ein Dorn im Auge? Hat sie „Systemsprengendes“ (99) vertreten? Jedenfalls spricht das Werk „von Ausbrüchen schon im jugendlichen Alter, von späterer Promiskuität, von Unbotmäßigkeiten einer Frau am Rand der Gesellschaft, von unversöhnlichem Aufruhr gegen die Welt der Männer und gegen die Obrigkeit“. (64) Was hat es mit dem Grab der Rebekka von dem Gawein auf sich, das Klingelhöffer, „einer der wichtigsten Geldgeber“ des Suchprojektes und „seit Jahrzehnten mit Rebekka beschäftigt“ (99), zu kennen behauptet? Schließlich: Wer war Herschel Bergius, der Literat, welcher mit ihr gemeinsam verschwunden sein soll?

All dies soll Johannes Beiner klären. Der Rezensent tut gut daran, nicht zu verraten, ob es dem für seinen Spürsinn Bekannten am Ende gelingt. Aber dies sei mitgeteilt: Johannes Beiner schafft es, den sechs jungen Teilnehmern seines Workshops literarisches Schreiben, die Bedeutung fiktionaler Texte nahezubringen. Alle haben über die verschollene Poetin spekulative Texte verfasst in der Meinung, so – eben als literarische Fiktion – erhalte man „ein hochaktuelles Porträt“ (194) von ihr − in den Beiträgen „lebte Rebekka also weiter“. (229) Würde die Stiftung „Literatenkolonie Wolfsland-Schwalm“ die Ausarbeitungen für Werbezwecke nutzen, genauer: nutzen können?

Berndt Schulz bezieht in seinen Roman, in dem er mehrfach anschauliche Landschaftsschilderungen der Schwalm-Region bietet und sich, das sei nebenbei bemerkt, eine zumindest indirekte Bezugnahme auf seinen zuvor erschienenen Roman Schöne grüne Welt gönnt (182), das gegenwärtig global vorherrschende Thema der gefährlichen Virusinfektion ein, ohne allerdings das Wort Corona zu verwenden. Und er würzt seinen erzählerischen Stoff mit der erotisch grundierten Beziehung zwischen dem Pädagogen und der sehr viel jüngeren Muslima Sumaya, die zwangsverheiratet werden soll – auch hier liegt ein aktueller Bezug vor.

In didaktischer Hinsicht wäre es besser gewesen, hätte der Kursleiter der Gruppe nicht die gesamten „zehn Gebote des Schreibens“ (40) an einem einzigen Vormittag nacheinander behandelt. Das wirkt, mutmaßlich auch für die Stipendiaten, etwas monoton. Nach der über weite Strecken des Buches kunstvoll aufgebauten Spannung erscheint zudem die Wandlung der zuvor stets als angespannt, ausweichend, verschlossen beschriebenen Stiftungsleiterin Renate Schleiter-König recht unvermittelt: „Ich bin jetzt befugt, mit Ihnen offen und ehrlich zu sprechen“ (205), erklärt sie Johannes Beiner. Fraglich ist ferner, ob es des Happy End zwischen dem Protagonisten und Hannah bedurfte, deren Streitereien und Trennung mehrere Male angesprochen wurden. Von diesem versöhnlichen, geradezu beglückend harmonischen Ausgang lesen wir auf der letzten Kapitelseite. „Komm, lass uns gehen“, sagt er zu ihr bei dem gemeinsamen Besuch in der ländlich geprägten Schwalm im Frühjahr nach dem Herbstferien-Kurs. Sie antwortet lachend: „Mit dir überall hin.“ (232) Doch das sind Petitessen im Vergleich zu der gelungenen schriftstellerischen Leistung des Romanciers Berndt Schulz. Der Autor hat mit großer Fabulierlust ein Buch verfasst, das „einen schönen Sieg von Literatur und Phantasie über die feindselige Realität“ (229) feiert und die Dichtung als kritische Seherkunst würdigt.

Thomas Berger