Der Tagesablauf im Bensheimer Konvikt


 

 

Der Tagesablauf im Bensheimer Konvikt

 

Als die Geschwister-Scholl-Schule im Schuljahr 1971/72 ihre Pforten öffnete, gehörte ich als Sechstklässler des Realschulzweiges zu einem der „Gründungsschüler“ der Schule, mein Klassenlehrer Hans Rücker, damals noch Referendar, war einer der „Gründungsväter“, wie es in einem Zeitungsartikel des „Bergsträßer Anzeigers“ anlässlich seiner Verabschiedung in den Ruhestand hieß. Mit zwei Klassenkameraden wohnte ich im Bensheimer Konvikt, wodurch wir uns unterschieden von unseren übrigen Mitschülerinnen und Mitschülern, die „ganz normal“ zu Hause bei ihren Eltern lebten in Bensheim, Fehlheim oder Zwingenberg. Das Konvikt war ein Internat in der Trägerschaft des Bistums Mainz, es bestand von 1888 bis 1981, also fast hundert Jahre, wenn man davon absieht, dass es auf Druck der Nationalsozialisten 1939 schließen musste[1] und erst im Jahr 1950 die Wiedereröffnung begehen konnte. Ungefähr 90 Schüler hatten ihre Betten in den Schlafsälen stehen, ihre Stühle im Speisesaal und ihre Pulte in den Studiersälen. Die meisten von ihnen trugen ihre Schultaschen zum Alten Kurfürstlichen Gymnasium (AKG) und brauchten dazu nur wenige Minuten schräg über die Wilhelmstraße zu gehen, aber stets gab es auch eine kleine Schar von Scholl-Schülern, die ihre Schultaschen weiter zu tragen hatten als die „AKGler“, über die Bahngleise und Felder zur Eifelstraße hin. (Die Unterführung in der Kirchbergstraße gab es noch nicht und die Häuser ab der Bahntrasse zur Scholl-Schule waren noch nicht gebaut.) Wie lebten die Jungen und Jugendlichen im Konvikt, einem charakteristischen Teil der vielfältigen Bensheimer Schullandschaft? Welchem Tagesablauf folgten sie? Darüber will ich in diesen Zeilen berichten, aus eigener Anschauung als Zeitzeuge, aus Gesprächen mit Zeitzeugen sowie aus der Kenntnis mancher Quellen, welche das Archiv der Stadt Bensheim und das Dom- und Diözesanarchiv Mainz bewahren.

Wie in einem Kloster gehorchte der Tagesablauf der Konviktsschüler einer festen Regel. Um zehn vor sieben erfolgte der Weckruf „Guten Morgen!“ eines Erziehers, der auf einen Gegengruß wartete. Rektor Karlhans Gerber (1960-1971) sprach mit kaum hörbarer Stimme, aber seine eher gefürchtete Autorität tat ihren Dienst und ließ uns trotz aller Schlaftrunkenheit den geforderten verbalen Tribut entrichten. Präfekt Siegfried Schramm, der von allen Erziehern wohl am längsten Dienst getan hat im Konvikt, nämlich von 1950 bis 1974, rief ein weithin vernehmbares „Guten Morgen!“, das er wiederholte und in der Lautstärke steigerte, wenn ihm nicht sogleich respondiert wurde. Die beiden anderen Erzieher während meines ersten Schuljahres, die Leiterin der Unterstufe aus Sextanern und Quintanern, wie wir damals sagten, Helene Humpf, und der Leiter der Mittelstufe, Rainer Ibler, begnügten sich, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, damit, zu grüßen und wieder weiterzugehen zu den Schülern der anderen Schlafsäle. Wir stellten uns ein auf die Eigenarten der drei Erzieher und Frau Humpfs, während der Morgenaufsicht und des gesamten Tages, bis wir abends wieder in den Betten lagen. Dazu war morgens auch der Umstand zu beachten, dass der Rektor und Rainer Ibler kontrollierten, ob wir im Waschraum in gehöriger Weise unserer Pflicht nachgekommen waren; zuweilen ließen sie den einen oder anderen Kameraden den Gang in den Waschraum noch einmal antreten. Der „Prä“ oder Frau Humpf waren in diesem Punkt weniger streng. Morgens nach dem Wecken bis zum Frühstück herrschte ebenso wie abends nach dem Gebet in der Kapelle „Silentium“, ein Stillschweigegebot. Seine Verletzung wurde mit „Melden“ beim Rektor nach dem Mittagessen und „Strafdienst“ geahndet. Klingelzeichen markierten die Abschnitte des Tages, aber ich grüble, ob der Weg nach dem Aufstehen, Waschen, Anziehen und Bettenrichten zum Morgengebet in der Kapelle schon akustisch anbefohlen wurde oder erstmals zehn Minuten vor dem Mittagessen, wenn es galt, sich im Waschraum mit Händewaschen zu präparieren. Dieses Detail ist durch die Löcher meiner Erinnerung gefallen. Der Erzieher, der die Morgenaufsicht führte, gestaltete auch das kurze Morgengebet in der Kapelle, warf bald noch einen prüfenden Blick in den Speisesaal, dann war sein – oder, im Falle Frau Humpfs, ihr – Morgendienst beendet. Pünktlich die Schultasche unter den Arm zu nehmen (Rucksäcke waren für schulische Zwecke noch nicht in Mode) und den Gang zur Schule anzutreten, oblag uns Schülern allein, auch schon den Sextanern; nach einer beaufsichtigten Eingewöhnungszeit. Wenn ich oben vom Klingelzeichen geschrieben habe, das vor dem Mittagessen zum Händewaschen aufforderte, so ertönte es kurz nach dreizehn Uhr. Im Speisesaal klapperte nach dem im Stehen gesprochenen Gebet des Rektors und seinem allseitigen Wunsch „Guten Appetit!“ das Besteck auf dem Geschirr von ungefähr neunzig Schülern um dreizehn Uhr zehn oder fünfzehn; auch das weiß ich nicht mehr genau. Genau weiß ich allerdings, dass Rektor Gerber meine beiden Klassen- und Konvikts-Kameraden und mich einmal zu sich an den „Herrentisch“ beorderte (so hieß der Erziehertisch im Speisesaal; das Zimmer, in dem die Erzieher und Frau Humpf getrennt von der Schülerschaft das Frühstück und den Nachmittags-Kaffee einnahmen, wurde „Herrenzimmer“ genannt), weil wir zu spät von der Schule zurückgekommen waren. In meinem ersten Schuljahr am Konvikt besuchten wir die Joseph-Heckler-Schule, aber auch der Weg von der Geschwister-Scholl-Schule zur Kirchbergstraße 18 ließ es nicht immer zu, dass wir das Kreuzzeichen an den Tischen mit dampfenden metallenen Suppenschüsseln mitmachen konnten. Die Mittagessenszeit war auf die Mehrzahl der Schüler vom Alten Kurfürstlichen Gymnasium ausgerichtet, nicht auf die Minderheit der Joseph-Heckler- Schüler, das musste auch Rektor Gerber einsehen. Er ermahnte uns zur Eile auf dem Rückweg von der Schule, beließ es aber in Zukunft bei einem kritischen Blick auf uns drei, wenn wir hin und wieder noch später erschienen und ohne Erklärungen unserem Tisch zustreben konnten.

Die beiden „Tischsenioren“, die uns Sextaner und Quintaner zu beaufsichtigen hatten an einem der zwölf runden weißen Tische im Speisesaal, kamen mir als Sextaner fast so erwachsen vor wie die Erzieher am Herrentisch. Es handelte sich um den Unterprimaner Klaus Neithart und den Untersekundaner Josef Melchiori. Klaus Neithart hielt uns vor dem ersten Abendessen meines ersten Konvikt-Schuljahres – es war Donnerstag, der 27. August 1970 – eine kleine Ansprache, in der er die Regeln zu Tisch darlegte: Alles hatte sich nach dem Herrentisch zu richten; genauer: nach dem Rektor. Begann dieser mit dem Essen, durften auch wir beginnen. Beendete der Rektor die Mahlzeit, hatten wir uns zu sputen, dies ebenfalls zu tun. Beim Mittagessen betraf dies jeden einzelnen Gang: Suppe, Hauptmahlzeit, Nachtisch. „Der erste Spatenstich“ des Rektors war abzuwarten, wie der Prä humorvoll formulierte. Mit Messer und Gabel war zu essen, der Ellenbogen hatte auf der Tischplatte nichts zu suchen, lautes Lachen oder Rufen waren zu unterlassen und stets nur eine Kartoffel (oder die Hälfte davon) durfte mit der Gabel in der Soße zerdrückt werden. Verstießen wir gegen eine dieser Regeln, erinnerte uns Klaus Neithart auch mit Ohrfeigen daran. Er folgte hierin einer Praxis, die ihm Rektor Gerber und sein Adlatus Rainer Ibler vormachten im Umgang mit uns Unterstuflern. Oft beobachtete ich, wie Klaus Neithart beflissentlich zum Rektor am „Herrentisch“ schaute, um keinen Fehler zu machen in den Anordnungen, die er uns erteilte. Übrigens war Klaus Neithart ein talentierter Klavierspieler und saß beim sonntäglichen und donnerstäglichen Gottesdienst in der Kapelle an der kleinen Orgel.

Zurück zum Tagesablauf im Konvikt. Nach dem Mittagessen zogen nicht wenige Schüler ihre Sportsachen an und liefen auf den Sandplatz zum Fußballspielen. Zwei Tore standen damals zwischen den umrandenden Bäumen. Die Bäume stehen noch immer da, aber die Tore sind verschwunden und statt des Sandplatzes findet man heute eine Wiese, wohin es die Besitzer von Vierbeinern zieht.

Das Freigelände des Konvikts war schön. Der Fischteich mit großen Goldfischen und ein Gehege mit Meerschweinchen und Zebrafinken faszinierten mich. Als Elfjähriger, der aus einer Familie stammte mit einer Stiefmutter wie aus dem Märchen und einem Vater, der wegsah oder müde dreinschaute, war das Konvikt die Rettung; mehr noch: es wurde für mich zum magischen Ort. Der Prä würdigte mich seiner Aufmerksamkeit, unterhielt sich mit mir, förderte mein Interesse an der Literatur und wurde mein Mentor, ohne den ich kaum einen Kompass im Leben gefunden hätte.[2]

Das Klingelzeichen um fünfzehn Uhr war nicht nur im Haus, sondern auch auf dem Freigelände zu hören. Es rief dazu auf, sich bereit zu machen für das „Studium“, womit im Konvikt die nachmittägliche Hausaufgaben- und Lernzeit bezeichnet wurde. Um fünfzehn Uhr fünfzehn hatten wir alle an unseren Pulten in den jeweiligen Studiersälen zu sitzen. Frau Humpf hielt vor dem Beginn immer eine kleine Ansprache, in der sie auf Besonderheiten für uns Sextaner und Quintaner einging und uns regelmäßig darauf einschwor, dass wir in der Konviktgemeinschaft nicht unangenehm auffallen sollten. Ob solche Ansprachen auch für die Mittelstufe aus Quartanern und Tertianern von Rainer Ibler gehalten wurden oder vom Prä bei seinen Sekundanern, entzieht sich meiner Kenntnis; sehr wohl möglich ist es. Als ich selbst ein „Mittelstufler“ und Untersekundaner geworden war, waren Rainer Ibler und der Prä nicht mehr im Konvikt tätig, auch Rektor Gerber nicht mehr, der den Primanern vorstand.

Das „Studium“ war dreigeteilt. Im ersten Studium von fünfzehn Uhr fünfzehn bis sechzehn Uhr fünfzehn herrschte strenges Stillschweigen; wir führten unsere schriftlichen Aufgaben durch. Von sechzehn Uhr fünfzehn bis sechzehn Uhr fünfundvierzig standen im Speisesaal Kaffeeersatz, Brot, Butter und Marmelade bereit. Im zweiten Studium sollte geübt werden, zum Beispiel Vokabeln. Nach einer fünfminütigen Pause war noch das dritte Studium bis kurz vor dem Abendessen um achtzehn Uhr dreißig angesetzt, wo wir uns, wenn wir der Schulaufgaben ledig waren, privaten stillen Beschäftigungen widmen konnten. „Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt“, lautet ein Ausspruch des argentinischen Schriftstellers und Bibliothekars Jorge Borges (1899-1986). In Abwandlung davon hätte ich damals, im Studiersaal des Konvikts am Pult sitzend, im ersten Jahr noch Tiergeschichten, später die Bücher von Schriftstellern lesend und eigene Geschichten schreibend, sagen können, dass es für mich das Paradies war.

Die Ansprache nach dem Abendessen beendete Rektor Gerber immer mit dem gleichen Satz: „Und morgen früh dann wieder zehn vor sieben aufstehen!“ Es folgten das Gebet und die Entlassung in die Freizeit. Für die Unterstufenschüler handelte es sich um eine knappe Dreiviertelstunde, die sie zur freien Verfügung hatten, bis das nächste Klingelzeichen zum Schuhputzen rief. Nun standen die Pflichten wieder obenan. Das letzte Klingelzeichen des Tages mahnte zum Gang in die Kapelle, wohin uns entweder Rektor Gerber, Präfekt Schramm, Rainer Ibler oder Frau Humpf begleiteten, wenn sie zur Abendaufsicht eingeteilt waren. Ungefähr elfhundert Abendgebete in der Kapelle habe ich während meiner sechs Schuljahre im Konvikt erlebt; in Erinnerung geblieben ist mir ein einziges, als uns Präfekt Schramm vom Kirchenvater Augustinus erzählte. Der Prä berichtete vom jugendlichen Lebenswandel Augustinus‘, der seine Venus-Stunden gehabt habe, aber die irdische Liebe mit der himmlischen getauscht habe und dadurch frei geworden sei. Das war es noch nicht, weshalb mir die kleine Ansprache des Prä als einzige von ungefähr elfhundert dieser Art im Gedächtnis geblieben ist, auch nicht als der Prä den berühmten Augustinus-Satz „Liebe – und tu, was du willst!“ sagte. Auch wegen dieses Satzes hätte ich wohl das Abendgebet in der Kapelle vergessen, wenn der Prä den Augustinus-Satz nicht noch einmal wiederholt hätte, nämlich zum Abschluss seiner Ansprache; und diesmal betonte er das „und tu, was du willst!“ mit einer Emphase, die Fanfaren zum Auftritt der Wahrheit glich. Auch die Dynamik, mit der der Prä den Altar-Vorraum verließ, von dem aus er zu uns gesprochen hatte, ist mir unvergesslich geblieben. Es war die Dynamik eines Mannes, der davon überzeugt war, seiner jugendlichen Zuhörerschaft eine absolute Wahrheit auf ihren Weg gegeben zu haben. 

Auf dem Rückmarsch durch den Kapellengang und das Treppenhaus zu den Schlafsälen begann das Silentium bis zum nächsten Morgen.

Mit Ablauf des Schuljahres 1970/71 verließ Rektor Gerber das Konvikt und nahm, wie es schon lange sein Wunsch gewesen war, eine Stelle als Gemeindepfarrer an. Mit ihm verließ Rainer Ibler das Haus, um seine Ausbildung als Lehrer abzuschließen. Das Rektorat wurde zum ersten Mal mit einem Laien besetzt, Otto Lause (1971-1973). Wir Schüler und Frau Humpf konnten beobachten, wie stark das Amt des Rektors den Geist des Konvikts prägte; der Prä wusste es bereits, denn Otto Lause war der vierte Rektor, den er erlebte. Er sollte noch einen fünften Rektor in seiner aktiven Zeit begrüßen, bevor er von diesem nach vierundzwanzigjähriger Tätigkeit im Rahmen einer großen Feier am 26. April 1975 offiziell in den Ruhestand verabschiedet wurde. Otto Lause schaffte das morgendliche und abendliche Silentium und den Strafdienst ab; das lästige „Melden“ entfiel. Was uns Quintanern im vorangegangenen Schuljahr und den älteren Schülern noch ein oder mehrere Schuljahre hindurch als ehernes und streng bewachtes Gesetz erschienen war – Silentium! –, galt auf einmal nichts mehr. Die neuen Sextaner grölten abends im Waschraum. Die aufsichtführende Frau Humpf sah ihnen stumm zu. „Das hätten wir letztes Jahr mal machen sollen!“, sagte ich verblüfft. Frau Humpf blickte mich nur an.

Otto Lause war erfüllt vom besten Willen zur Führung des Konvikts, aber er besaß kein rechtes Konzept und schied nach zwei Schuljahren resigniert aus. Sein Nachfolger Franz Josef Thelen (1973-1979) war Sozialarbeiter und sollte „ein Kapitel für sich“ bedeuten in der Konviktshistorie – im Guten wie im Schlechten. Das Schlechte überwog jedoch so sehr, dass im „Bergsträßer Anzeiger“ im Jahr 2010 Thelens Rektorat als „schwarze Vergangenheit“ bezeichnet wurde. Seinerzeit war Thelen als „Lichtgestalt“ gefeiert worden. Was war geschehen? Der charismatische neue Rektor krempelte das Konvikt um zu einer „Vorzeigeeinrichtung“. Pädagogisch geschultes Fachpersonal, kleine Gruppen, Hobby- und Partyraum, Fahrtenkonzept und Mitbestimmungsrechte der Schüler standen auf seiner Agenda. Eine Gruppe älterer Schüler unter Leitung des Zivildienstleistenden Peter Anton Degen zog in eine Wohnung in der Nibelungenstraße; im Sprachgebrauch des Konvikts „die Außenstelle“. Aber Thelen verging sich an Konviktsschülern, die er in seinen Kreis der „Bevorzugten“ holte. Schon an einer vorherigen Arbeitsstelle in Bayern hatte er sich des Kindesmissbrauchs schuldig gemacht und war deshalb juristisch belangt worden. Wie konnte er unter diesen Umständen das Rektorat am Konvikt übertragen bekommen? Als ich im Oktober 2010 im Rahmen von Recherchearbeiten für einen Aufsatz über das Bensheimer Konvikt[3] die Ehre hatte, den Altbürgermeister und Ehrenbürger der Stadt Georg Stolle (1938-2020) interviewen zu dürfen – in den fünfziger Jahren selbst Konviktsschüler unter den Rektoren Karl Kunkel (1950-1956) und Dr. Paul Tillmann (1956-1960) –, sprach er sein völliges Unverständnis aus über die Informationspolitik der katholischen Kirche in Mainz gegenüber der Stadt Bensheim. Thelen wurde vom Spiritual und einem Sozialpädagogen am Konvikt, den er selbst eingestellt hatte, zum Rücktritt genötigt. Seine Verabschiedung geschah in Ehren, er erhielt sogar die Ehrenmedaille der Stadt überreicht für seine Verdienste um das Jugendzentrum. Thelen trat in einen Orden ein, ging nach Bolivien, avancierte zur rechten Hand des dortigen Bischofs und machte sich neuer Vergehen schuldig, die schließlich seine Entlassung aus dem Orden zur Folge hatten. Georg Stolle erzählte mir, dass Thelen zurückgekehrt war nach Deutschland und sich als Page eines Kölner Hotels verdingt habe. Als dort einmal ein Gast aus Bensheim abgestiegen sei, habe Thelen ihm „schöne Grüße“ ausrichten lassen. Wieder schüttelte der Altbürgermeister mit Unverständnis in den Augen den Kopf. Am 18. März 2010 wurde Thelen die Ehrenmedaille auf Beschluss der Stadtverordnetenversammlung einstimmig aberkannt.[4]

Unter dem Nachfolger Thelens als Rektor geriet das Haus in einen chaotischen Zustand. Nach einem Schuljahr wurde ein neuer Rektor bestellt, Josef Deibele, der jedoch von Mainz nur noch als Insolvenzverwalter gedacht war. Bei der Verabschiedungsfeier für Präfekt Schramm im April 1975 hatte der Vertreter des Mainzer Bistums noch den Willen zur zeitgemäßen Fortführung der Internatserziehung „als Teil kirchlicher Jugendhilfe“ bekräftigt; fünf Jahre später war davon keine Rede mehr; das Haus wurde abgewickelt. Josef Deibele berichtete mir bei einem Besuch, den ich ihm in seinem Haus in Mainz-Marienborn abstattete, von den Schwierigkeiten, die er gehabt habe, um eine niedergeschlagene und teilweise renitent gewordene Schülerschaft zu einem geordneten Auszug zu bewegen. Als letzter Vertreter des alten Konvikts ging er über die leeren Gänge. Eine fast hundertjährige und überwiegend segensreiche pädagogische Arbeit in Bensheim war beendet.

Ich freue mich, dass ich durch das ehemalige Konvikt und die Geschwister-Scholl-Schule Kontakte gefunden habe und möchte Dank sagen: Meinem ehemaligen Klassenlehrer Hans Rücker, dem ich seit einigen Jahren meine Texte zuschicke, für die er in seiner Bibliothek eine Ecke geräumt hat; Oberstudienrat i.R. und Autor Franz Josef Schäfer, der mir, noch in seiner aktiven Zeit, uneigennützig die Arbeit an Artikeln über das Bensheimer Konvikt überließ, die er selbst hatte schreiben wollen, und mir dabei noch mit manchen wertvollen Ratschlägen half; seither stehen wir als Literatur- und Geschichtsfreunde im E-Mail-Austausch; schließlich der ehemaligen Leiterin der Geschwister-Scholl-Schule und Herausgeberin der Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen, Dr. Angela Lüdtke, für die Anregung zu diesen Zeilen.  

Der Gemeinschaft der Geschwister-Scholl-Schule Bensheim sende ich meine guten Wünsche.

 

Erstveröffentlichung unter dem Titel „Der Tagesablauf im Bensheimer Bischöflichen Konvikt – ein ehemaliger Schüler berichtet“ in: Verschiedene Wege – ein Ziel. 50 Jahre Geschwister-Scholl-Schule Bensheim. Herausgegeben von Dr. Angela Lüdtke. Bensheim 2021, S. 231-236.

 

                

 

 

 

            

 

 

[1] Vgl. hierzu Johannes Chwalek: Die Enteignung des Bischöflichen Knabenkonviktes Bensheim durch das Land Hessen. In: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte, 64. Jahrgang 2012, S. 277-289. (Auch in: Mitteilungen des Museumsvereins Bensheim e.V., Verein für Regionalgeschichte und Denkmalpflege, Nr. 66, 2. Halbjahr 2012, S. 8-18).

[2] In meinem Roman „Gespräche am Teetisch“ (Frankfurt am Main 2019) habe ich Präfekt Siegfried Schramm in der Figur des „Präfekt Schreiber“ meinen Dank erwiesen.

[3] Johannes Chwalek: Das Bischöfliche Knabenkonvikt Bensheim. Erster Teil: 1888-1939. In: Geschichtsblätter Kreis Bergstraße, Band 44, 2011, S. 86-114.

[4] Vgl. zu Franz Josef Thelen und den übrigen Rektoraten nach der Wiedereröffnung des Konvikts im Jahr 1950: Johannes Chwalek: Das Bischöfliche Knabenkonvikt Bensheim. Zweiter fragmentarischer Teil: 1950-1981. In: Geschichtsblätter Kreis Bergstraße, Band 45, 2012, S. 213-238.