Eine rätselhafte Begegnung: 2.Teil


Eine rätselhafte Begegnung: 2.Teil

Dazu sei mir die Anmerkung erlaubt, dass auch jüngere Menschen vor dem Phänomen des Wegnickens nicht geschützt sind. Neulich sagte mir nämlich nach einer Lesung eine junge Frau,  meine Geschichte habe sie nach einem langen und anstrengenden Tag in einen so wohligen Zustand der Entspannung versetzt, dass sie zeitweilig eingenickt sei. Ich war ihr nicht böse, hat sie doch mein Buch gekauft, um es zu Hause in dem ihr gemäßen Tempo zu lesen.

Und ehrlich gesagt, ein ruhig vor sich hinträumender Zeitgenosse regt mich während einer Lesung weniger auf als jemand, der Gläser umfallen lässt, sich in rhythmischen Intervallen die Nase schnäuzt oder lautstark mit seinem Sitznachbarn tuschelt.

Für meine Lesung auf der Nordseeinsel war, wie sich herausstellen sollte, ein Stuhlkreis vorgesehen. Dreißig junge, mittelalte und ältere Frauen sowie drei Männer – von denen ich den einen auf ungefähr fünfzig, die anderen deutlich älter schätzte – saßen wie im Kindergarten im Halbkreis, als ich mit dem Pfarrer und der Organistin der Gemeinde den Saal betrat. Zwischen einigen Frauen war eine lebhafte Unterhaltung im Gange, andere wiederum saßen still auf ihrem Stuhl und harrten der Dinge, derentwegen sie gekommen waren. So auch die drei Männer.

Es sah mir nicht danach aus, dass es günstig gewesen wäre, den kleinen Tisch, der beide Enden des Halbkreises miteinander verband, wegzurücken und zu erklären, ich wollte beim Lesen lieber stehen.

Ich wollte auch nicht stehen. Die lange Fahrt steckte mir in den Knochen, und auch ein wenig die Aufregung vor dem Leseabend, deshalb war ich froh über Tisch und Stuhl, und ich war froh, eine Leselampe vor mir zu haben, denn das Licht im Saal war ermüdend matt, meine Leselampe aber erfrischend hell. Ich war auch froh darüber, dass sich mir das Problem, den letzten in der Runde gut zu erreichen, nicht stellte, und ich erwartete auch nicht, dass jemand vor meinen Augen wegnicken würde.

Ich setzte mich an den für mich vorgesehenen Platz und sah zu dem Pfarrer hin, in der Erwartung, er werde den Leseabend mit ein paar launigen Worten eröffnen und mich vorstellen, doch der Pfarrer hatte auf einem der noch freien Stühle Platz genommen, ebenso die Organistin, und beide unterhielten sich mit ihren jeweiligen Sitznachbarn.

Ich nahm meine Lesebrille zur Hand, putzte sie. Vielleicht bemerkte der Pfarrer ja diese Geste und verstand, was ich mit ihr bezweckte, dachte ich, aber er fühlte sich ganz offensichtlich als ein Teil des Publikums. Kurz wandte er sich der Organistin zu, als sei ihm soeben etwas eingefallen, das es mit ihr noch zu klären galt, dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück, lächelte freundlich und schloss die Augen.

Kurz nach dem Empfang im Pfarrhaus hatte er mir mitgeteilt, dass er sich mit meiner Lesung von seiner Gemeinde verabschieden wollte, bis zum nächsten Sommer, und mir beim Hineingehen in den Gemeindesaal zugeraunt: „Meine Frau hat alles so schön für Sie hergerichtet“ und mich dabei so uneigennützig angestrahlt , dass ich es nicht über mich brachte, zu erwidern, im Internet hätte ich aber gelesen …, nun, Sie wissen schon.

Immerhin hatte mir sein Abschiedsabend eine akzeptable Zahl von Zuhörerinnen und Zuhörern beschert. Wer weiß, wie es gekommen wäre, hätten die Flyer ausschließlich nur für meine Lesung geworben. Und wenn ich es genau bedenke, hatten wir über die Eröffnung des Abends gar nicht so genau gesprochen.

Es war allmählich an der Zeit, mein Publikum, das längst interessiert meine Verlegenheitsgeste beobachtete, selbst zu begrüßen.

Ich hatte gelesen, in jedem Fall sei es unterhaltsam, Dinge von sich zu geben, die nicht im Roman stehen, also begann ich damit, ich käme aus Mainz, einer sehr alten Bischofstadt am Rhein, der Stadt Gutenbergs, des ZDFs, und der ältere der beiden Männer aus der Runde,  ein Mann mit einem gutmütigen, wettergegerbten Gesicht, er mochte so um die sechzig gewesen sein, unterbrach mich, in dem er sagte, er habe in Mainz vor Jahren einen ordentlichen Wein getrunken, an Fastnacht, das sei ihm von Mainz in Erinnerung. Seine Nachbarin, eine attraktive ältere Frau, fügte hinzu, auch sie kenne die Mainzer Fastnacht und dabei lächelte sie versonnen, und ich dachte mir dazu die passende Geschichte.

Die erste Hürde war genommen, spürte ich. Das Publikum und ich rückten näher zusammen. Vor allem hatte ich seine Aufmerksamkeit gewonnen.

Ich setzte meine Brille auf, fühlte, dass es gut war, an einem Tisch zu sitzen, vor einer hellen Lampe, die alle Wörter scharf gestochen vor mir aufblitzen ließ. Entspannt schlug  ich mein Buch an der ersten markierten Stelle auf und begann zu lesen.

Ich las ohne Pause – etwa eine Stunde lang.

Ich las vor einem schweigsamen, konzentriert wirkenden Publikum.  Niemand schlief, räusperte sich oder hustete.

Als ich endete, war es immer noch still im Saal. Niemand sagte ein Wort, und es gab zunächst auch keinen Beifall. Ich gebe zu, ich war einigermaßen verwirrt. Ich sah zum Pfarrer hin, hoffte, er würde aufstehen, vor das Publikum treten und alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

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