Geborgen im Zeitenstrom. Haiku-Dialoge


Rezension:

Jennifer H. Weber und Thomas Berger: Geborgen im Zeitenstrom. Haiku-Dialoge

Fuldatal 2023 (edition federleicht)

 

Es ist noch zu berichten von einem liebevoll gestalteten Band mit dem Titel „Geborgen im Zeitenstrom“ und dem Genrehinweis „Haiku-Dialoge“. Jennifer H. Weber und Thomas Berger haben ihn verfasst; die Autorin steuerte zusätzlich siebzehn Tuschezeichnungen zweier Kraniche bei, die in immer neuen Positionen zu sehen sind. Deutlich wird, dass die Tiere in gegenseitiger Zuneigung stehen und die Liebe verkörpern, welche das 110 Seiten umfassende Buch zum Inhalt hat. Im Vorwort heißt es, dass die „dreihundertvierzig Haiku des Buches […] jeweils aus der Sichtweise von Frau und Mann eine außerordentliche Liebesgeschichte“ erzählten[1]. Wir haben es also mit einer Verschiebung der Gattungsgrenzen zu tun, indem in lyrischer Form epische Inhalte transportiert werden. Von der Ballade ist diese Überschneidung der Genres bekannt, aber die Strophenform der Ballade ist opulent und erinnert schon von daher an ein erzählendes Werk. Dass Jennifer H. Weber und Thomas Berger ausgerechnet die kürzeste Gedichtform, das Haiku, zum Erzählen einer – sagen wir besser: ihrer Liebesgeschichte wählen – denn um diese handelt es sich –, entbehrt nicht eines besonderen Reizes. Ursprünglich wurde und wird das aus japanischer Tradition stammende Haiku zur Veranschaulichung eines Augenblicks und Kipp-Momentes in der Natur verwendet. Die westliche Kultur hat diese inhaltliche Festlegung wenigstens teilweise aufgegeben und thematisiert mit dem Haiku auch Aspekte ohne direkten Naturbezug. Dass jedoch eine sich über Jahrzehnte erstreckende Handlung mithilfe des Haiku erzählt wird, ist ungewöhnlich und zeugt vom Mut der Verfasserin und des Verfassers, sich kreativ neuen Wegen zu öffnen.

In fünf Kapiteln wird die ungewöhnliche Liebesgeschichte eines Mannes und einer Frau dargelegt und reflektiert.[2] Das erste Kapitel „EINST“ gibt der Leserschaft Auskunft über den Beginn der Liebesbeziehung: „Nur eine Zugfahrt: / so schicksalhafte Reise / zu unserm Anfang.“[3] Dieses Haiku der „Frau“ – mithin der Autorin Jennifer H. Weber – erhält folgende Korrespondenz des „Mannes“ – also des Autors Thomas Berger: „Einst ahnte ich nur, / in dem kleinen Zugabteil, / dass Großes begann.“[4] Ein Haiku auf der nächsten Seite: „Mit zarten Siebzehn / ein bestrickendes Lächeln – / so fing alles an“[5] erläutert die frühe Begegnung des Autorenpaares weiterhin. Die Mikrostruktur der Kapitel erweist sich darin, dass über die Dialog-Form der Haiku-Paare seitens der Frau und dann des Mannes einzelne spätere Haiku im selben Kapitel als vertiefende Entgegnung zum früheren Haiku gelten können; andere Haiku beschreiben den Fortgang der Handlung. Dies betrifft im ersten Kapitel den Umzug der Frau.[6] Die Fernbeziehung per Brief erlahmt äußerlich, doch „Ein schwaches Glimmen“[7] bleibt bestehen; die Frau „verfolgt“ seine „Werke und Spuren / im weltweiten Netz.“[8]Drei Jahrzehnte verstreichen, bis die Frau im zweiten Kapitel „WIEDERFINDEN“ schreiben kann: „mein drängender Schrei nach dir / ward endlich gehört.“[9] Die Einsicht, dass das Paar zusammengehört, auch noch nach der großen Zeitspanne, die vergangen ist, formuliert der Mann so: „In urferner Zeit / hieb Zeus die Kugel entzwei. / Doch wir fanden uns.“[10] Nun beginnt – endlich – das Leben des Paares unter der Kapitelüberschrift „GEMEINSAM“ – zumindest innerlich als Bewusstsein der Zusammengehörigkeit. Äußerlich wohnen beide noch in entfernten Städten. Auch über diesen Punkt muss Klarheit gewonnen werden. Zum Abschluss des dritten Kapitels „AUSEINANDERGERISSEN“ heißt es seitens des Mannes: „Ich seh es genau: / die Elster baut jetzt ihr Nest – / wir machen es auch.“[11] Die Anschaulichkeit der Haiku ist im gesamten Text präsent, erreicht jedoch einen Höhepunkt im letzten Kapitel „VEREINT AM MEER“. Der Aufenthalt bei Kormoranen, Austern, Wattwürmern und „Keckernden Möwen“[12] bringt dem Paar die Gewissheit, „zusammen leben, / schlafen, kochen, genießen“[13] zu wollen. Die Liebes-Lebensreise hat sich erfüllt: „Vom Schicksal umarmt / täglich neue Erfüllung / an seiner Seite“, schreibt die Frau. Der Mann antwortet: „Zusammen wohnen, / geborgen im Zeitenstrom, / im Meer der Liebe.“[14]

(Exzerpt aus der im Entstehen begriffenen Werkgeschichte Thomas Bergers) 

 

[1] Vgl. Jennifer H. Weber und Thomas Berger: Geborgen im Zeitenstrom. Haiku-Dialoge. Fuldatal 2023, S. 5.

[2] Die Zahl Fünf symbolisiert im östlichen und westlichen Kulturkreis die Liebe.

[3] Ebd., S. 8.

[4] Ebd.

[5] Ebd., S. 9.

[6] Vgl. ebd., S. 15.

[7] Ebd., S. 18.

[8] Ebd., S. 19.

[9] Ebd., S. 27.

[10] Ebd., S. 37.

[11] Ebd., S. 89.

[12] Ebd., S. 102.

[13] Ebd., S. 107.

[14] Ebd., S. 110.