GEHEIMNISVOLLE BEGEGNUNG


MAINZER ERZÄHLUNGEN

Thomas Berger

GEHEIMNISVOLLE BEGEGNUNG
Über die Erzählung Otto Lause
von Johannes Chwalek

Eine Begegnung der ungewöhnlichen Art: Vierzig Jahre nach dem Verlassen des Bischöflichen Konvikts in B. trifft der namenlose Ich-Erzähler in einem Café in B. unvorhergesehen den damaligen Rektor Otto Lause. Der ehemalige Schüler zeichnet gleich zu Anfang ein ambivalentes Bild des Mannes – guten Willens sei er gewesen, „aber ohne die notwendige Professionalität“, und dennoch habe er auf ihn, den Erzähler, „einen unverlöschlichen Eindruck gemacht“. (1)

Mit diesem Beginn seiner Erzählung Otto Lause weckt der Mainzer Autor Johannes Chwalek die Neugier der Leser. Worin besteht der bleibende Eindruck? Wer ist dieser Mann, der zu den Personen zu zählen ist, „die einem Rätsel aufgeben“? (2)

Wir werden Zeugen einer Reihe von Stationen. Die beiden sitzen im Café, der Jüngere bestellt für den Älteren, der „gebrechlich geworden und etwas heruntergekommen“ (3) wirkt, Linsensuppe mit Brötchen und Kaffee. Dann sehen wir sie in einem Zigarrenladen, wieder auf Initiative des Ich-Erzählers, der abermals bezahlt, diesmal Zigarren für den früheren Internatsleiter. Den Vorschlag, zu dem mittlerweile geschlossenen Konvikt zu gehen, lehnt Lause ab: „Ach, mir scheint, es wäre nicht gut, es hat mir seinerzeit einige Mühe bereitet, mit meinem Weggang fertig zu werden.“ (4) Im Stadtpark unterhalten sie sich über das auf einer Anhöhe gelegene „Kirchberghäuschen“, die berufliche Tätigkeit des Jüngeren, der Deutsch, Geschichte und Philosophie unterrichtet, während Otto Lause Anglistik, Philosophie und Pädagogik studiert hat. So haben die beiden genügend Gesprächsstoff, beispielsweise über das unterschiedliche Zeitempfinden junger und alter Menschen, die Vergänglichkeit, die menschliche Existenz.

Es gelingt, Lause zu überreden, das Angebot, im „P.hof“ auf Kosten des früheren Zöglings für eine Woche ein Zimmer mit Vollpension zu beziehen, damit sie bereits am nächsten Tag, wenn der Jüngere wiederkäme, ihre philosophischen Gespräche fortführen können.

Im Kapitel II, das den zweiten Tag der Begegnung schildert, sprechen sie über die Themen Abschied, das Loslassen vom Egozentrismus und von der Gier. Plötzlich äußert Otto Lause doch den Wunsch, das Konvikt in der Kirchbergstraße 18 noch einmal zu sehen. Eine Reihe von baulichen Veränderungen haben das Gebäude und die Anlage inzwischen erlebt. Beide bedauern den Abriss der roten Backsteinmauer, die sie „als eine schützende Umrandung“ (5) erlebt haben. Lause erfährt, dass das Internat 1980/1981 aufgegeben wurde, weil es unter dem Nachfolger Lauses zu sexuellen Missbrauchsfällen gekommen war. Dann nimmt das Gespräch wieder philosophische Züge an und mündet in religiösen Gedanken: Gott als zwar nicht erkennbare, aber erfahrbare Quelle wahrer Gelassenheit.

Das dritte Kapitel, zugleich der dritte Tag, bringt eine Überraschung: Obwohl sie sich zum erneuten Gespräch verabredet haben, sei Otto Lause, wie der Rezeptionist erklärt, bereits abgereist, nach nur zwei Nächten statt der vereinbarten sieben. Und er habe einen Brief an seinen ehemaligen Schüler hinterlassen. So kann ihn der Ich-Erzähler nicht mehr, wie er es sich vorgenommen hat, nach seinen persönlichen Lebensumständen, seinem Wohnort, dem Grund seines Aufenthaltes in B., seiner finanziellen Situation und der Entwicklung nach der Aufgabe seines Leitungspostens fragen. Das Fazit lautet: „Otto Lause war Herr der Situation geblieben, so wie er es all die Stunden unseres Zusammenseins in den letzten beiden Tagen gewesen war.“ (6)

Mit einem literarischen Coup schließt die lesenswerte Erzählung: Der Ich-Erzähler setzt sich, um den Brief des rätselhaften Otto Lause zu lesen. Mehr erfahren wir – Johannes Chwalek sei Dank! −  nicht.

 

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(1)  Johannes Chwalek, Otto Lause, in: ders., Skizzen eines Schachspielers.
       Erzählungen, Scholastika Verlag, Stuttgart 2021, S. 142
(2)  a.a.O., S. 143
(3)  a.a.O., S. 150
(4)  a.a.O., S. 147
(5)  a.a.O., S. 158
(6)  a.a.O., S. 163/164