Gert Ueding: Wo noch niemand war. Erinnerungen an Ernst Bloch:
Rezension von Johannes Chwalek
Gert Uedings Erinnerungsbuch an Ernst Bloch hat schon viele zustimmende Kritiken erfahren. Der Rezensent schließt sich diesen positiven Stimmen an, weil das Buch es vermag, Ernst Bloch „erstehen“ zu lassen, vor allem in der Tübinger Zeit vom Antritt der Gastprofessur 1961 bis zum Tod des Denkers am 4. August 1977. Der vertraute Umgang, den der Student Gert Ueding als Mieter eines Souterrain-Zimmers im Mehrfamilienhaus „Im Schwanzer 35“, heute Ernst-Bloch-Straße, allmählich mit dem berühmten Mitbewohner gewinnen konnte, der über seiner „Bude“ sein Arbeitszimmer im Erdgeschoss hatte und dessen Assistent und Freund er schließlich wurde, hat zu einem unvergleichlichen Portrait des in Rede und Schrift wortgewaltigen, uneitlen, charismatischen und – natürlich! – gedankentiefen und Pfeife rauchenden Mannes geführt, Verfasser des „Prinzip Hoffnung“ und eines – mit Ergänzungsband – siebzehnbändigen Gesamtwerkes. Was ließe sich über ein Buch Besseres sagen, als dass der Rezensent nach der Lektüre von Gert Uedings Publikation den Eindruck bekommen hat, das Buch sei überfällig gewesen und hätte schon längst geschrieben sein müssen? Oder dass es wie ein „natürliches Ereignis“ wirke und ihm das Recht alles Lebendigen zukomme?
An dieser Stelle soll vor allem auf einen Aspekt verwiesen werden: Uedings Erinnerungsbuch an Ernst Bloch kann heute schon gelesen werden als Hommage an die alte deutsche Universität Humboldt’scher Prägung, wo das Wissen zum Erlebnis werden und die Studenten für ihr weiteres Leben – siehe Gert Ueding – „auf die Spur setzten“ konnte. Natürlich war Bloch ein Glücksfall für die Tübinger Universität und nicht die Regel, aber auch er vermochte seine Geistesgaben zu teilen und bei andren wachsen zu lassen in einem akademischen Betrieb, der dazu den geeigneten Rahmen bot. Dieser Rahmen hieß Freiheit der Lehre und Forschung und – wie wir es heute großenteils vermissen – des Studierens. Nach der Anpassung (Anbiederung, Auflösung) an das anglikanische Universitäts-System durch die sogenannte Bologna-Reform haben sich unsere Universitäten, vor allem auch in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten, zu Pauk- und Drillanstalten gewandelt, wo die Jagd nach „Credit-Points“ den Mittelpunkt studentischen Bemühens bildet. Diesem aufgezwungenen „Formalismus“ korrespondieren formalisierte Lehrinhalte. Nehmen wir die Germanistik: Die Literaturwissenschaft ist weitgehend an die Wand gedrückt worden, in Hör- und Seminarräumen dominiert die Linguistik in allen syn- und diachronen Varianten vom Grundstudium bis zum letzten Master-Semester. Auch die Lehramtsstudenten, die so viel Linguistik rauf und runter nicht im Mindesten brauchen können und stattdessen mit mehr Literatur-Seminaren viel besser bedient wären, werden nicht verschont. Hieß es nicht von Seiten unserer Politiker, die Umstellung geschähe mit Rücksicht auf die Praxis? Welche Praxis meinten die Politiker? Die Praxis betriebswirtschaftlicher Erfordernisse? Freilich, wenn dies der Fall war (neben der Sucht, das gute Eigene möglichst abzuschütteln und sich stattdessen dem – eigeninterpretierten – englisch-amerikanischen Universitäts-System zu unterwerfen und dabei denken zu können, man sei nun endlich „en vogue“), hat man seinen Zweck erreicht: Mit Online-Prüfungen in der Mitte des Semesters (Multiple-Choice-Aufgaben unter Count-Down-Modus-Bedingung: Noch 15, 14, 13 Minuten; bei Versagen gilt die Veranstaltung als nicht bestanden); generell mit dauernden „Ab-Prüfungen“ überfrachteter Semesterinhalte, die kein Mensch mehr – in Ruhe – durchdenken kann (und soll?); bis zum Bachelor-Examen mit Dozenten und Dozentinnen, die auf die Massen der Studierenden herabschauen, weil sie ihnen mit einem Magister- oder Doktorgrad längst entflohen sind; mit dem Bafög-Amt im Nacken, das strenge auf die Einhaltung der „Regelstudienzeit“ setzt usw. – Mit diesen „Regularien“ haben sich die deutschen Universitäten entfernt von allem, was Gert Ueding von seiner Studien- und Assistentenzeit bei Ernst Bloch in Tübingen berichtet: der systematischen Arbeit in der Ruhe des Gedankens, ohne missgünstige Hetze durch ein von Politikerinnen (Buhlmann, Schavan) abgeschautes „modernes“ Studiensystem betriebswirtschaftlicher Kasernierung; in der Ruhe des Gedankens, die der Würde der Wissenschaft angemessen ist.
In einem auf YouTube veröffentlichten Interview spricht Gert Ueding selbst diesen Missstand der „neuen Universität“ an und fragt, wie Ernst Bloch dagegen polemisiert hätte. Des Philosophen Stimme kann niemand ersetzen. Aber wir sind gehalten, uns auch in seinem Namen zu fragen, was zu tun ist. „Hegel wohnt nicht mehr in Deutschland“ hat vor einiger Zeit ein enttäuschter Philosophie-Emeritus in einer bekannten Tageszeitung bitter bilanziert. (Auch das Philosophie-Studium ist „entstaubt“ worden; jetzt erwarten den Studenten Logik-Prüfungen zum „Aussieben“ sowie Strukturalisten und pragmatische Denker aus dem anglikanischen Raum; der Deutsche Idealismus ist weitgehend an die Wand gedrückt worden…) Fühlen wir uns in einem solchen Wissenschaftsbetrieb zu Hause? Wenigstens – mit Bloch zu reden – in einem Vorgefühl oder Vorschein von Zuhause? Wie wollen wir lernen und studieren? Und wie wollen wir arbeiten und leben, dass es ein Zustand sei, zu dem wir Ja sagen können?
Ein Dozent an einer bundesdeutschen Universität erklärte mir einst in seinem Büro, Bloch sei „out“. Ich war verwundert ob des kühnen Wortes. Wie sollten die Denk-Versuche Ernst Blochs „out“ sein, mit denen er Wege weisen wollte, uns näher zu führen an einen gesellschaftlichen Zustand, zu dem wir Ja sagen können? Gert Uedings Bloch-Buch erinnert auf ergreifende Weise an den aufrechten Gang, der damals in Tübingen gelebt und gefordert wurde. Wir haben uns davon entfernt. Wir sollten ihn nicht vergessen.