IM ZAUBERGARTEN


IM ZAUBERGARTEN

Eine Parabel

 

Vor langer Zeit lebten im Osten eines fernen Landes zwei Knaben, welche die Hausväter Robustos und Parvulus getauft hatten. Viele Leute schüttelten damals den Kopf, wenn sie die seltsamen Namen hörten. Die Verständigeren freilich, welche wussten, dass das Schicksal die Namensgebung lenkt, nahmen sie als Zeichen für die Entwicklung der beiden. Und tatsächlich wuchs Robustos zu einem kräftigen, selbstsicheren Jungen heran, während Parvulus von schmächtiger Statur war und zur Ängstlichkeit neigte.

 

Ihre Elternhäuser standen nicht weit voneinander entfernt. Nur wenige Menschen wohnten in dem abgelegenen Dorf. Daher lag es nahe, dass sich Robustos und Parvulus, so verschieden sie in ihrer Wesensart auch sein mochten, häufig trafen, zusammen spielten und Streifzüge in Wald und Flur unternahmen. Dabei waren die Rollen in der Kameradschaft durchaus unterschiedlich verteilt: Robustos, der Ältere, fühlte sich überlegen und ließ den Jüngeren seine Stärke durchaus spüren. Das bedrückte Parvulus zwar – gern wäre er auch so groß gewesen; dann hätte er sich zu wehren gewusst. Aber er mochte den Unbezwingbaren dennoch nicht missen und wollte sich dessen Zuwendung unbedingt erhalten – er hätte allerdings nicht sagen können, was ihn dazu bewog.

 

Nun lebte am Rande der Ortschaft in einem geräumigen, schon ein wenig schadhaften Haus eine betagte Frau. Sie war verwitwet und wohnte allein. Robustos und Parvulus machten sich oftmals einen Spaß daraus, die Alte heimlich zu beobachten, wenn sie sich an der Vorderseite ihres Hauses in ihrem verwunschenen Garten aufhielt. Die Bürschchen trieben gern Schabernack mit ihr, indem sie, hinter Hecken und Bäumen verborgen, im Wechsel piepsende und schrille Laute von sich gaben  oder abgerissene Ästchen, zuweilen sogar Steinchen nach ihr warfen. Sie sahen dann vergnüglich, wie die Frau den Kopf hob, um sich sah, lauschte und dann weiterschlurfte.

 

Bei Wind und Wetter fanden sie Gelegenheit zu ihren Streichen; denn die Greisin war fast immer draußen. Liefen sie nach vollbrachten Taten heim, konnte Robustos es sich meistens nicht verkneifen, dem Kleineren ein paar heftige Stöße in die Hüfte zu verabreichen. Parvulus biss jedes Mal die Zähne zusammen und schwieg.

 

Eines Tage traf es sich, dass die Jungen, durch die Häufigkeit ihrer Streiche übermütig und folglich unvorsichtig geworden, bei ihrem Treiben von einem Mann geraume Zeit beobachtet wurden. Zum Pech für sie handelte es sich um den Schulmeister aus der Stadt, der mit seiner Botanisiertrommel in der Landschaft umherzuziehen pflegte, um nach Pflanzen Ausschau zu halten. Er kannte die beiden auf frischer Tat Ertappten und stellte sie in gestrengem Tonfall zur Rede. In dieser Lage hätte es natürlich nichts genützt, einfach wegzurennen – so viel Einsicht besaßen sie. Also ließen sie sich willig durch das breite brüchige Gartentor zu ihrem Opfer führen. Robustos schaute zur Seite, Parvulus auf den Boden. Nachdem der Lehrer den Sachverhalt erklärt hatte – er musste laut sprechen, um verstanden zu werden – und die Überführten Worte der Entschuldigung gestammelt, oder sagen wir besser: geheuchelt, hatten, zog er seines Weges.

 

Nun entstand zwischen den Dreien eine längere Zeit der Stille. Niemand sagte etwas. Die Lausbuben wussten nicht, ob sie gehen oder bleiben sollten. Endlich redete die alte Frau, die noch immer die Gartenschaufel in der Hand hielt. „Kommt doch morgen Nachmittag einmal vorbei, dann gibt es herrliche  Kirschen für euch.“ Ungläubig tauschten die völlig Überraschten Blicke, nickten stumm und verließen langsamen Schrittes das Grundstück. Wortlos gingen sie nach Hause, und diesmal beließ es Robustos bei einem leichten Rippenstoß.

 

Wie zu erwarten, erschien ihnen am nächsten Tag das Ganze wie ein Traum: die weißhaarige Alte, die peinliche Begegnung mit dem Schulmeister, ihr Aufenthalt in dem weitläufigen Garten, die sonderbare Einladung. Sie hätten wohl ein paar Tage verstreichen lassen und sich mit anderen Aktionen die Zeit vertrieben, wenn nicht Parvulus, der Zurückhaltende, diesmal die Initiative ergriffen hätte. Die Worte der Alten, mehr noch ihr gütiges Gesicht, hatten Spuren in ihm hinterlassen. Vielleicht war auch das Gefühl einer leichten Reue aufgekeimt. Kurzum: Es gelang ihm, Robustos zu überreden, das merkwürdige Angebot anzunehmen.

So suchten sie mit gemischten Empfindungen erneut den Garten auf, in welchem sich üppige Blütenpracht und wucherndes Unkraut auf das Beste zu vertragen schienen. Freundlich empfing die Frau sie, wischte die erdbeschmutzten Hände am Arbeitskittel ab und lächelte. „Ich muss euch etwas zeigen, Kinder. Aber erst wollen wir die Kirschen essen. Kommt!“ Noch immer ein wenig unsicher folgten sie ihr. Auf einem wackligen runden Tisch unter einem riesigen Kirschbaum standen bereits drei Schalen mit saftigen, süßen Früchten. Die Buben wunderten sich, dass kein Wort über das Geschehen vom Vortag fiel – keine Vorwürfe, keine Ermahnungen. Stattdessen erkundigte sich die Alte nach den Großeltern der beiden und erzählte von gemeinsamen Erlebnissen mit diesen. Währenddessen musterte sie abwechselnd Robustos, den Breitschultrigen, und Parvulus, den Zartgliedrigen.

Als keine einzige der köstlichen Kirschen mehr übrig war, hieß die Greisin sie mitkommen. Vorbei an wohlriechenden Reseden, orangefarbenen Ringel-blumen, einer Unmenge an Goldruten und dichtem Brombeergestrüpp gelangten sie zu der hinter dem Haus gelegenen Fläche. Die Jungen erblickten einen ziemlich verfallenen Schuppen, bepflanzte Zinkwannen, schäbige Regentonnen. Doch das war es nicht, was die Frau ihnen zeigen wollte. Sie wies vielmehr auf   ein großes Kräuterbeet, an dessen Rand Schwarzer Holler wuchs. „Seht nur“, rief sie, wobei sich ihr knochiges Gesicht aufhellte, „wie sich der Kürbis von der Erde aus am hohen Haselnussbaum hinaufgerankt hat!“ Und wirklich hingen mitten im Blattwerk des Hasels zwei schwere gelbe Kugeln. „Jetzt schaut dort: die leuchtend hellroten Blütenstände der Feuerbohne! Die Pflanze hat einen Halt gesucht und hat sich emporgewunden an den Ruten des Himbeerstrauches. Ist das nicht wunderbar? Großes bietet Kleinem Schutz, das sich so entfalten kann.“ Wieder lächelte sie. Die Jungen blickten einander kurz an, sagten aber nichts, sondern nickten der Greisin nur kurz zu.

Aber später, auf dem Nachhauseweg, schaute Parvulus ein paar Mal zu Robustos auf. Der legte unversehens seine grobe Hand um die Schulter des Jüngeren. Das hatte er noch nie getan. Eine ganze Zeit lang gingen sie so. Parvulus strahlte.

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