Thomas Berger
IN DER WORTSCHMIEDE
Gedichte − so unnahbar sie nicht wenigen erscheinen – richten sich an ein Gegenüber, wollen verstanden werden. Die häufig anzutreffende distanzierte Haltung gegenüber lyrischen Gebilden resultiert vor allem aus deren Wesensart: Sie geben die Wirklichkeit, wie sie von den meisten wahrgenommen werden kann, nicht einfach wieder. Zwar siedeln Gedichte keineswegs in einer der Realität entzogenen und folglich unzugänglichen Sphäre. Sie sind mit der allen vertrauten Welt verbunden. Aber sie liefern kein realistisches Abbild, zum Beispiel von Begebenheiten, Vorgängen oder natürlichen Erscheinungen. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um subjektive Wahrnehmungen, um persönliche Empfindungen der Verfasser.
Weil das so ist, erschließen sich poetische Texte zumeist durchaus nicht auf Anhieb. „Mit Gedichten“, erklärte deshalb Bertolt Brecht (1898−1956), „muß man sich ein bißchen aufhalten und manchmal erst herausfinden, was schön daran ist“. (Werke, Band 23, Frankfurt am Main 1993, S. 213)
Zweck der vorliegenden Ausführungen ist es, Lesern die geforderte Mühe im Umgang mit lyrischen Erzeugnissen ein wenig zu erleichtern. Dazu stelle ich mein Gedicht Titellos vor.
TITELLOS
Kein
Schneeregen
kein
Wolkengrau
kein
Sturmgebraus
Im Munde
sinken
Sirenen
Vor Augen
schlummern
Kyklopen
An Wangen
hüpfen
Erinnyen
Kein
Schneeregen
kein
Wolkengrau
kein
Sturmgebraus
Eine gewisse Schwierigkeit bereitet gewiss schon die Überschrift: Hat das Gedicht nun einen Titel, oder hat es keinen? Unverkennbar steht dort ein Titel. Der lautet indes: Titellos. Es liegt mithin ein spannungsvolles Verhältnis vor. Das muss etwas mit der Grundaussage des Gedichtes zu tun haben – aber was?
Betrachten wir die erste Strophe, die am Ende wortgleich wiederkehrt:
Kein
Schneeregen
kein
Wolkengrau
kein
Sturmgebraus
Das an ein Rundlied erinnernde Verfahren dient der Betonung, lenkt den Blick auf das Wesentliche. Wieder begegnen wir einer Spannung. Pointiert heißt es dreimal: kein. Das lässt aufhorchen; denn etwas, das überhaupt nicht gegeben ist, ausdrücklich zu negieren, wäre sinnlos. Mutmaßlich herrschen demnach Schneeregen, Wolkengrau und Sturmgebraus.
Warum dann aber die Verneinungen? Weil der Autor die Naturphänomene, denen er wohl in dieser Stunde ausgesetzt ist – Schneeregen, Wolkengrau, Sturmgebraus − in seiner Phantasie auf individuelle Weise erlebt. Die nicht gerade heimelig anmutende Wetterlage nimmt im Erleben die Gestalt von Sirenen, Kyklopen und Erinnyen an. Auch die mythischen Figuren aus der griechischen Antike verbinden wir gemeinhin mit Unbehaglichem, Bedrohlichem: Die Stimmen der Vogeldämonen, der Sirenen, stiften Unheil, die gewaltigen Riesen, Kyklopen, verbreiten Furcht, und die rasenden Göttinnen, Erinnyen, strafen Frevel. Doch hier tritt abermals ein Gegensatz zutage. Sirenen, heißt es im Gedicht, sinken, auf der Zunge schmelzenden Flocken ähnlich, friedlich nieder, anstatt ihren todbringenden Gesang anzustimmen. Kyklopen nähern sich nicht angsteinflößend, sondern schlummern ruhig wie Wolkengebilde. Und Erinnyen befinden sich nicht auf Rachefeldzügen, sondern springen tänzelnd nach Art stürmischer Böen.
Unwirtliches, will das Gedicht vermitteln, wird in diesem konkreten Moment als angenehm, ungefährlich, sogar heiter erlebt.