Lob der Freundschaft, zweiter Teil


Lob der Freundschaft

II/III

 

Bei der Weimarer Klassik verhält es sich ähnlich wie im antiken Griechenland: Goethe und Schiller waren umgeben von Mit- und Gegenstreitern, welche später in dieser Anzahl und in diesem Rang in Deutschland nicht mehr aufgetreten sind. Um 1800 fand Deutschlands „Athen“ statt – aber ich will aus persönlichen Erinne­rungen heraus die geistige Welt meines Freundes andeuten. Noch in seiner akti­ven Zeit als Präfekt des Internats (das heißt Haupterzieher nach dem Rektor) er­zählte ich ihm, dass mich ein Bild Schillers fasziniert habe, das ich in der Inter­natsbibliothek in einer Literaturgeschichte entdeckt hätte. Kurze Zeit später über­reichte er mir eine Ablichtung jenes Schiller-Bildes – das nun vor mir auf dem Tisch liegt. Es handelt sich um das im Todesjahr Schillers angefertigte Gemälde von Johann Friedrich August Tischbein (dem Vetter des „Goethe-Tischbein“ Jo­hann Heinrich Wilhelm). Tischbein begann mit der Arbeit im Februar 1805. Schillers Gesundheitszustand ließ bald weitere Sitzungen nicht mehr zu, so dass Tischbein Danneckers Portraitbüste zu Hilfe nahm, das Gemälde wahrscheinlich erst nach Schillers Tod vollendete und mehrere Repliken anfertigte. Diese Repli­ken sind teilweise regelrecht grotesk und geben nichts wieder von dem tiefen Eindruck, den ich damals in der Bibliothek im B.er Internat empfand. Selbst die heute im Marbacher Nationalmuseum hängende Fassung kommt nicht an „meine“ Fassung heran; Schillers Gesicht ist schon etwas in die Länge gezo­gen, was sich in späteren Repliken noch verstärkt hat. Worin bestand nun aber der „tiefe Eindruck“, den das Schiller-Bild auf mich machte? Müssen bei einem „überwältigenden Eindruck“ alle Worte nicht notwendigerweise zurückbleiben hinter dem inneren Erlebnis? Ich habe damals meinem Freund meine Faszination mitgeteilt, aber deren Authentizität hat er vielleicht mehr aus dem Klang meiner Stimme, dem Leuchten meiner Augen usw. herausgehört und -gesehen, als aus dem rationalen Gehalt meiner Sätze. In jedem Fall kann ich rückblickend sagen, dass mein Eindruck ungebrochen war, in keiner Weise angekränkelt von irgend­einem Zweifel. Hier war ein Mensch in einer Überlegenheit dargestellt, die ich noch nicht erfahren hatte. Die Überlegenheit war innerer und geistiger Natur, sie stützte sich auf den eigenen Sinn, das eigene Denken und war deshalb umso überzeugender. Zwar hatte der Maler Schiller einen majestätischen Umhang an­gedichtet (oder vielleicht sogar tatsächlich umgehängt), aber dann das in deutli­chen Falten darunter liegende Hemd nicht verschwiegen, nicht einmal ein Stück Kragen des weißen Unterhemdes. Die wirren Haare verstärken den Eindruck, dass hier nicht äußere Repräsentation von Belang ist (wie es gerne in Beschrei­bungen des Bildes betont wird), sondern gegenwärtige geistige Präsenz. Im Themistokles-Fragment wollte Schiller am Schluss „ganz den herrlichen Grie­chen“ darstellen, „die hohe, treffliche, unzerstörliche Natur, kurz den ganzen un­sterblichen Helden.“ Er schließt mit einem Wort, das ich damals meinem Freund dem Sinn nach sagen wollte, ohne dass ich es vermochte: „Geist fließt von sei­nen Lippen, Leben glüht in seinen Augen, Feuer und Tätigkeit ist in seinem gan­zen Tun.“

 

Zu meinem siebzehnten Geburtstag schenkte mir mein Freund ein Goldmann-Taschenbuch mit einer von Kurt Waselowsky ausgewählten und eingeleiteten Sammlung von Goethes Gedichten. Am häufigsten habe ich das Gedicht „Hoff­nung“ aus dem Jahr 1776 aufgeschlagen und es immer wieder gelesen, obwohl ich die wenigen Verse längst auswendig wusste:

 

Schaff´, das Tagwerk meiner Hände,

Hohes Glück, daß ich´s vollende!

Laß, o laß mich nicht ermatten!

Nein, es sind nicht leere Träume:

Jetzt nur Stangen, diese Bäume

Geben einst noch Frucht und Schatten.

 

Hoffnung gehört zur Jugend, die – nach einem Wort von Jakob Michael Reinhold Lenz – zwar noch nichts ist, aber noch alles werden kann, weil ihr eine scheinbar unübersehbare Zeit zur Verfügung steht.

 

O Zeit des Werdens,

der Ahnung des Vollbringens,

ungebrochnen Traums!

 

Mit den Jahren verengen sich die Möglichkeiten – bis zuletzt die Basis aller Hoff­nung, die bloße physische Existenz erlischt. Welche Rolle spielt die Hoffnung in der zweiten Lebenshälfte, vielleicht ab dem vierzigsten Jahr, und welche Rolle spielt sie für mich? Der Bewusstseinswandel von der Jugend zum Erwachsenen­alter ist von der Einsicht in die Begrenztheit eigener Kräfte geprägt, gibt im Glücksfall auf, was sich als unerreichbar erwiesen hat und wird dadurch frei, tätig zu bleiben, ohne sich selbst noch so wichtig zu nehmen. Heiterkeit ist wohl das treffende Wort, das einen solchen Bewusstseinswandel kennzeichnet, und auch hier habe ich meinem Freund viel abschauen können, vor allem in der Zeit, als er der Berufspflichten ledig war. Auch seine immer schwächer werdende Gesund­heit änderte daran nichts.

 

Immer heiterer

wurdest du, Freund, im Alter.

Vorbild bis zuletzt.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.