Philosophiestunde


Philosophiestunde

Fortsetzung

 

Mit Thomas G. kam ich erst am nächsten Tag nach der Schule – eine Stunde vor dem Mittagessen – ins Gespräch über die Anregungen des gestrigen Abends.

„Was hast du dir notiert bei deinem Rundgang ums Konvikt?“, fragte ich Thomas G.

„Dass ich es komisch finde, wenn Sokrates sagt, die Philosophen wollen so wenig wie möglich mit ihrem Körper zu tun haben.“

„Ja, das wollte ich auch erst aufschreiben.“

„Was hast du stattdessen geschrieben?“

„Dass die Philosophie nach Sokrates oder Platon – ich weiß nicht – ein Mittel ist, um Freiheit zu erlangen.“

„Die Freiheit soll dadurch entstehen, dass der Philosoph sich so weit wie möglich von seinem Körper lossagt. Kannst Du mir sagen, wie das gehen soll? Ist das nicht totaler Quatsch?“

„Warum denkst du, dass es Quatsch ist?“

„Der Gedanke, mich loszusagen vom eigenen Körper, entsteht im Gehirn, also im Körper. Ich brauche den Körper, um mich vom Körper abzuwenden. Das kommt mir irre vor. – Bist du anderer Meinung?“

„Ja und nein. Wenn ich meinen Opa angucke, wie müde er oft ist, auch am Tag … welche Schmerzen er in den Beinen hat … Durchblutungsstörungen … wie unbeweglich er geworden ist, verstehe ich, dass der Körper als Last empfunden wird. Nicht wie bei uns – wir sind jung, alles funktioniert, als könnte es nicht anders sein.“

„Bei meinem Opa ist es auch so, dass er viele Beschwerden hat. Aber meine Eltern sagen, er ist fröhlicher als früher – oder warte mal … mein Vater hat gesagt, der Opa ist heiter geworden, das wäre er früher nicht gewesen.“

„Als er noch gesund war.“

„Ja.“

„Was bedeutet es, heiter zu sein? Hat es etwas mit Platons Text zu tun?“

„Heiter zu sein bedeutet, glaube ich, sich nicht mehr gefangen nehmen zu lassen. Auch nicht von sich selbst. Das hat etwas mit Platons Text zu tun.“

Wir schwiegen kurz. Thomas G. sagte: „Heute will L. das Buch zurückhaben.“

„Ich würde noch gern darin lesen“, entgegnete ich.

„Ich auch. Meinst du, dass L. mit uns weitermacht?“

„Mit den Einheiten?“

„Ja.“

„Von Küste zu Küste. Wenn man das wüsste.“

„L. ist ein bisschen komisch, findest du nicht?“

„Ja, schon. Andererseits hat er etwas an sich.“

„Stimmt. Aber man müsste mal herauskriegen, was eigentlich mit ihm ist.“

„Wie willst du das machen?“

„Hast du nicht eine Idee?“

„An der Schule ist ein Lehrer, der weiß es vielleicht.“

„Wieso? Was unterrichtet er?“

„Geschichte und Deutsch.“

„Wie heißt er?“

„Franz Josef Hüter.“

„Wie kommst du gerade auf ihn?“

„Ich habe gehört, er wisse viel und sei hilfsbereit.“

„Hast du ihn nicht im Unterricht?“

„Nein.“

„Na gut, wenn du meinst … probier’s!“

 

Was das Buch betrifft, sprach mich der Rektor nach dem Mittagessen noch im Speisesaal darauf an: „Das Buch – ich habe es mir überlegt: wollt ihr noch darin lesen?“

„Ja, sehr gerne.“

„Gut. Unterhaltet euch über die Lektüre, du und Thomas G. Von Zeit zu Zeit könnt ihr mich darauf ansprechen.“

„In Ordnung. Danke!“

Rektor L. nickte mir zu und verließ den Speisesaal. Ich dachte, eine neue Spielregel, die Einheiten müssen Thomas G. und ich uns selbst geben. Immerhin lässt er uns das Buch.

Im Foyer entdeckte ich Thomas G. und berichtete ihm. Er schüttelte den Kopf.

„Das ist auch wieder so etwas“, meinte er, „ganz einfach geht L. darüber hinweg, dass er uns angeboten hat, über antike Klassiker zu sprechen. Jetzt will er nur noch zwischen Tür und Angel mit uns darüber reden.“

Ich zuckte mit den Achseln. „Lass uns lieber beraten, wie wir weiter vorgehen wollen.“

„Wir könnten den Prä fragen, was hältst du davon?“

„Ja, der weiß bestimmt was.“

Es dauerte eine kleine Weile, bis wir den Prä gefunden hatten im großen Konviktsgebäude. Bereitwillig hörte er uns zu, schnaufte einmal über das Verhalten des Rektors durch die Nase, betrachtete sich das Buch mit der Auswahl antiker Klassiker und sagte nach einer Weile:

„Seht mal, Jungs, das Buch will einen Überblick geben, eine erste Orientierung über die Gedankenwelt im antiken Griechenland und in Rom. Vielleicht genügt es, wenn ihr euch zu den einzelnen Textauszügen nur kurze Bemerkungen oder Fragen aufschreibt und dann den nächsten Auszug lest. Auf diese Weise erhaltet ihr manche Eindrücke und geratet vielleicht schon in den Vorhof eigenen Denkens. Gut möglich, dass ihr euch am Ende eurer Lektüre einer Thematik besonders zuwendet.“

Das ist ganz der Prä, dachte ich. Einfühlsam und freundlich, und vollendet in seinen Formulierungen.

Thomas G. nickte beifällig mit dem Kopf. „Dann können wir doch gleich den zweiten Text lesen!“, sagte er.

„Na dann!“, rief der Prä aufmunternd. Er fügte hinzu: „Bleibt aber möglichst auf dem beschriebenen Weg – mit dem Ziel, ein Überblickswissen zu erlangen. Erst danach mögt ihr eigene Abzweigungen nehmen.“

 

Der zweite Text, den wir, auf einer Bank in der Nähe des Fischbassins sitzend, seitenweise abwechselnd laut lasen, stammte von Aristoteles und trug die Überschrift „Philosophie als Wissenschaft der obersten Gründe und Prinzipien“. Thomas G. sagte, Aristoteles systematisiere und kategorisiere in seiner Schrift die Erscheinungswelt. Das sei etwas ganz anderes als bei Platon. 

„Ja“, erwiderte ich, „das stimmt. – Schade, dass wir niemand haben, der uns Erläuterungen geben kann zu Aristoteles.“

Thomas G. überlegte kurz, dann sagte er:

„In der Konviktsbibliothek steht ein Lexikon in mehreren Bänden, da können wir nachlesen über Aristoteles und über alle Denker, die in L.s. Buch noch vorkommen. Wer ist denn der nächste?“

Ich blätterte in Rektor L.s. Buch:

„Epikur. – Was hältst du davon, wenn wir uns abwechselnd knapp informieren über den neuen Philosophen?“

„Gute Idee.“

„Wenn du willst, mach ich mit Epikur den Anfang.“

„In Ordnung!“

Wie es der Prä angeregt hatte, notierte ich meine Eindrücke der Aristoteles-Lektüre in Form von drei Fragen:

 

  • Ist das Auge unser wichtigstes Sinnesorgan?
  • Arbeiten wir zuerst für das Notwendige, dann für das Bequemliche und zuletzt erst für das Wissen um seiner selbst willen?
  • Ist das Konvikt ein Ort der Muße, um sich mit Philosophie zu beschäftigen? (Natürlich kannte Aristoteles nicht das Konvikt. Ich hatte seine Gedanken über den Zusammenhang von Muße und Philosophie auf unser Schülerwohnheim übertragen.)

 

„Die Fragen kannst du alle mit einem einzigen Wort beantworten“, meinte Thomas G.

„Stimmt, mit ja oder nein“, entgegnete ich, „aber das reicht mir nicht, ich will das Ja oder Nein in jedem Fall begründen.“

„Gut, dann sag mir mal: Ist das Konvikt ein Ort der Muße, um sich mit Philosophie zu beschäftigen?“

„Ja, das ist es! Meine Begründung lautet, dass wir hier genügend Freizeit haben, die wir, wenn wir wollen, mit Philosophieren hinbringen können.“

„Wie kommt es, dass wir hier genügend Freizeit haben?“

„Wir müssen uns nicht um das Essen kümmern. Viermal am Tag gehen wir in den Speisesaal, wo alles für uns bereitet ist. Verlassen wir den Speisesaal, wird alles für uns nachbereitet.“

„Eine enorme Zeitersparnis gegenüber Menschen, die selbst einkaufen, kochen und spülen müssen.“

„Ja. Außerdem haben wir wie in einem Kloster eine festgelegte Tagesordnung mit einer Mittags- und einer Abendfreizeit. Auch im dritten Studium können wir uns, wenn alle Schulaufgaben erledigt sind, mit eigenen Lieblingsthemen still beschäftigen.“

„Zum Beispiel mit Philosophie.“

„Ja.“

„Da fällt mir was ein.“

„Was?“

„Wir könnten sowohl den Rektor als auch den Prä fragen, ob die Bedingung für das Philosophieren allein die Muße darstellt. Gibt es sonst nichts, was als weiterer Faktor hinzukommt?“

„Fragst du den Prä?“

„Ja, und du den Rektor.“

 

Ich wusste, dass Herr Hüter dienstags die Hofaufsicht führte in der zweiten großen Pause. Diese Gelegenheit nutzte ich, ihn anzusprechen.

„Herr Hüter?“

„Ja.“

„Mein Name ist Jeannot C. Ich habe gehört, dass Sie sich gut auskennen in Rechercheangelegenheiten. Darf ich Sie etwas fragen?“

„Von wem hast du gehört, dass ich mich gut auskenne in Rechercheangelegenheiten?“

„Es ist allgemein bekannt.“

„So?“

Herrn Hüter schien meine Antwort zu amüsieren. Er war ein großer und kräftiger Mann und strahlte viel Freundlichkeit aus. In diesem Punkt erinnerte er mich an den Prä.

„Was willst du mich fragen?“

„Mein Konviktskamerad Thomas G. und ich würden gerne etwas erfahren über eine bestimmte Person.“

„Geht Thomas G. auch auf unsere Schule?“

„Nein, aufs AWG.“

„Wer ist die Person, über die ihr etwas erfahren wollt?“

„Unser Rektor Otto L.“

„Der Rektor des Konvikts?“

„Ja.“

„Ihr wisst sicherlich, dass es Datenschutzregeln gibt. Über eine lebende Person kann nur in engen Grenzen eine Aussage getroffen werden.“

„Was sind das für ‚enge Grenzen‘?“, fragte ich.

„Die Mitteilung, die ich euch über euren Rektor Otto L. geben kann, wird allgemeinen Charakter haben. Ihr könnt sie nur miteinander besprechen, also du mit Thomas G., sonst mit niemand, und ihr werdet sie innerhalb einer halben Stunde vollständig vergessen haben. Erst wenn die Situation unverfänglich geworden ist, erinnert ihr euch wieder daran. Dann besteht auch die Möglichkeit, dass ihr mehr erfahrt über Otto L. – Dies kann allerdings jahrzehntelang dauern. Es ist auch keineswegs sicher, dass es überhaupt eintritt.“

Ich war verblüfft und enttäuscht.

„Was macht es für einen Sinn, wenn die Information, die Sie Thomas G. und mir über Rektor L. geben, in einer halben Stunde aus unserem Gedächtnis verschwunden ist?“

Herr Hüter zuckte die Achseln. Anders geht es nicht, sollte das heißen. Er schaute mich fragend an.

„Ja, dann bitte ich Sie um Ihre Hilfe“, sagte ich mit leiser Stimme.

Herr Hüter nickte mir zu.

„Bring mir ein Foto von Rektor L. Dann kann ich Dir schon am nächsten Tag Auskunft geben.“

„Ein Foto?“, fragte ich.

„Ja, ein Foto“, bekräftigte Herr Hüter.

„Gut, ein Foto“, sagte ich, „aber es war mir nicht klar, wie ich darankommen sollte. Es war nicht wie heute, wo es nicht ungewöhnlich ist, dass viele Menschen mehr als tausend Fotos auf ihren Smartphones mit sich herumtragen und täglich bei jeder Gelegenheit weitere Fotos machen, sondern Fotos mussten auf kleinen Filmrollen im Fotoladen entwickelt werden oder vom Fotoladen, wo man die Filmrolle abgegeben hatte, in ein Labor geschickt werden, nach ein oder zwei Wochen konnte man sich die Fotos abholen und musste dafür bezahlen.

Thomas G. hob den Zeigefinger, als ich ihm das Wort des Lehrers Hüter mitteilte, er brauche für eine Auskunft über Rektor L. ein Foto von ihm. Seine Schwester habe, glaube er, beim Fußballturnier vor drei Wochen Fotos gemacht und dabei auch den Rektor vor die Linse bekommen. Kein Portrait, ein Gruppenfoto, aber vielleicht reiche es aus.

Das Fußballturnier der vier Konvikte in B., D., M. und T. fand einmal jährlich statt und wurde vor drei Wochen turnusmäßig bei uns in B. abgehalten. Mit den Jahren hatte es sich zu einer Art Sommerfest entwickelt, das auch Verwandte der Konviktsschüler sowie auswärtige Gäste anlockte. Fußball interessierte mich nicht besonders, ich bin nur ganz selten dem Spielgerät nachgejagt und habe anschließend den Sand aus meinen Sportschuhen rieseln lassen. Aber natürlich war das Turnier im Konviktsalltag ein Ereignis. Wir umstanden von allen Seiten den Platz, wollten es besser wissen als die Spieler, riefen, klatschten oder stöhnten auf vor Enttäuschung, wenn der Ball nicht dorthin flog, wo wir ihn sehen wollten. Die Schwester Thomas G.s stach mir in die Augen, ohne dass ich um das Verwandtschaftsverhältnis wusste. Sie war drei oder vier Jahre älter als ich, was in unserem damaligen Alter einen entscheidenden Unterschied ausmachte. Sie war das, was landläufig eine strahlende Erscheinung genannt wird; mit einem Fotoapparat lief sie umher und nahm lächelnd von allen Seiten bewundernde Blicke entgegen.

„Ach, die junge Frau mit den langen Haaren und dem Fotoapparat ist deine Schwester?“

„Ja, meine Schwester“, antwortete Thomas G. Er sah mich prüfend an. Ich vermied deshalb die Frage nach dem Namen der Schwester.

„Ja, dann bitte deine Schwester um das Foto“, sagte ich möglichst sachlich, „auch wenn es ein Gruppenfoto ist. Immerhin etwas.“

Thomas G. nickte und beendete seinen forschenden und, wie mir schien, etwas spöttischen Blick auf mich.

„Aber sag mal“, meinte er dann, „was will der Lehrer mit einem Foto von L., wenn es darum geht, Informationen über ihn zu bekommen?“

„Ich weiß nicht“, antwortete ich, „vielleicht kennt er jemand, der etwas weiß von L.“

„Und dafür braucht er ein Foto – zur Identifizierung? Merkwürdig, findest du nicht?“

„Es gibt da etwas, das noch viel merkwürdiger ist“, sagte ich.

„Nämlich?“

Ich erzählte von den Bedingungen, unter denen es laut dem Lehrer Hüter überhaupt nur möglich wäre, etwas Näheres über Rektor L. zu erfahren.

„Das ist allerdings merkwürdig“, bestätigte Thomas G., „du hast dich offensichtlich darauf eingelassen.“

„Die Alternative lautet, auf Informationen zu verzichten.“

„Schon klar“, nickte Thomas G., „wenn wir uns unter bestimmten Umständen nach langer Zeit wieder an die Information erinnern können, heißt das, dass wir sie nicht vollständig vergessen haben, sondern sie im Unterbewusstsein mit uns tragen.“

„Ja. – Was willst du damit sagen?“

Thomas G. sah mich an:

„Wer macht das mit uns, dass wir vergessen und uns irgendwann – vielleicht – wieder erinnern?“

„Soll ich Herrn Hüter sagen, dass wir lieber doch nicht wollen?“

Thomas G. überlegte kurz und entschied dann:

„Ich bring nach dem nächsten Heimfahrwochenende das Foto mit.“