Reiseleiter, Murmeltiere und die Fallen der Erinnerung


 

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Reiseleiter, Murmeltiere und die Fallen der Erinnerung

Ein Jahr auf Tour ist vorbei. Zwischendurch hin und wieder ein Beitrag. Zeit, allen zu danken, die meine Notizen gelesen haben und Euch ein wundervolles Jahr 2017 zu wünschen. Ein Jahr, das Euch neue Einblicke, Erkenntnisse und Erlebnisse für alle Sinne bescheren möge. Bleibt neugierig und habt Appetit auf Unbekanntes, dann wird Euch das Neue Jahr Momente bringen, die Euch verzaubern wollen – lasst es zu.

Das ist auch, kurz zusammengefasst, was ich mir von meinen Reisegästen wünsche.

In einem Hotel in Italien habe ich an der Wand ein Zitat gefunden, das ich hier frei übersetzen möchte: „Die Welt ist ein Buch. Wer nicht reist, der liest nur eine Seite davon.“ Ich wünsche Euch allen, dass ihr viele Seiten dieses Buches lesen könnt – und Euch von mir Appetit auf weitere Seiten machen lasst.

Es klingt banal, aber ich halte das Reisen mit offenen Sinnen für die beste Medizin gegen jede Form von Engstirnigkeit.

Am Jahresende sagt man mitunter, man solle zurück und nach vorn schauen. Wer so etwas tut, der muss ein rechter Januskopf sein. Deshalb trifft es sich gut, dass ich die Planung für 2017 erst in den kommenden Tagen bekomme und mich heute auf den Blick zurück beschränken kann.

Wenn meine Excel-Tabelle nicht schwindelt, war ich 2016 insgesamt 127 Tage als Reiseleiter unterwegs. Ich habe genau 399 Reisegäste in andere Länder begleitet, habe dabei 47.500 km im Bus zurückgelegt, die meisten davon auf dem Beifahrersitz. (Kann jemand bitte den Herstellern MAN und Mercedes sagen, dass ihre Beifahrersitze eine Zumutung sind? Ich weiß nicht, was für einen Typ Beifahrer sie bei der Konstruktion ihrer Sitze im Auge hatten, Menschen mit ausgeprägt masochistischen Neigungen offenbar. Oder aber sie wollen den Reiseleiter dazu motivieren, während der Fahrt nicht faul auf dem Sessel herumzulümmeln, sondern den Gästen Getränke und Essen zu bringen. Bei anderen Herstellern, Setra und Neoplan zum Beispiel, sitzt man viel entspannter.) Dazu kommen etwa 40.000 km im Flugzeug sowie einige Tausend Kilometer auf Fähren und kleineren Schiffen.

Ich habe 65 unterschiedliche Hotels in 10 Ländern auf 3 Kontinenten erleben dürfen. Als Reiseleiter hat man den Vorteil, dass man dabei eine größere Bandbreite erlebt als der normale Reisegast. In einigen Hotels geht man (nicht zu Unrecht) davon aus, dass der Reiseleiter so etwas wie nicht zahlender Ballast ist, eine Art blinder Passagier, für den ist dann eine bessere Besenkammer gerade gut genug. Andere Hotels glauben (ebenfalls nicht zu Unrecht), dass der Reiseleiter schließlich hinterher das Hotel bewerten soll, was durchaus Auswirkungen auf künftige Buchungen haben kann – dann bekommt er auch schon mal ein Zimmer mit einem besonders schönen Balkon oder einer extra großen Badewanne, und hin und wieder gibt es auch das Bier oder den Wein zum Abendessen gratis.

Liebe Hoteliers: Reiseleiter sind in ihrem Urteil absolut unbestechlich! (Zumindest, wenn sie gut geschlafen und gegessen haben…)

In Europa bin ich zwischen Nordkap und Lanzarote umhergereist (gut, Lanzarote gehört geographisch eigentlich zu Afrika, politisch allerdings ist es Teil von Spanien). Ich habe in Wales den Ort mit dem längsten Ortsnamen besucht, den ich hier nicht aufschreiben werde, weil ich mich dabei sowieso vertippe. Stattdessen stelle ich das Foto des dortigen Bahnhofs ein. Ich war kurz vor dem Ort mit dem kürzesten Namen der Welt, der Gemeinde Å auf den Lofoten.

Fragt bitte nicht, wo es mir am besten gefallen hat. Normalerweise soll man als Reiseleiter auf jede Frage eine Antwort haben, bei dieser muss ich passen. Jedes Bekenntnis zu einem bestimmten Ort würde all die anderen wunderbaren Orte zurücksetzen.

Ich habe Landschaften und Bauwerke gesehen, die mich sprachlos gemacht haben, auch beim wiederholten Besuch. Ich habe interessante Menschen kennengelernt, sowohl an den Reisezielen als auch unter meinen Reisegästen. Ich habe das Erschrecken erlebt, als ich zuhause in den Nachrichten hörte, dass ein durchgeknallter Vollidiot im Namen eines eingebildeten Gottes in Nizza auf der Promenade des Anglais in eine feiernde Menschengruppe hineingerast ist und viele getötet hat. Auf jenem Boulevard, auf dem ich wenige Tage zuvor noch gestanden habe und zu dem ich immer wieder gern zurückkehre, weil er so viel Lebensfreude ausstrahlt – etwas, das religiöse Fanatiker jeder Glaubensrichtung nicht verstehen und schon gar nicht dulden können.

Ein Busfahrer hat mir das folgende Gleichnis erzählt: Reiseleiter sind wie Murmeltiere. Anfang April kriechen sie abgemagert, pleite und ausgehungert aus ihren Erdlöchern und gehen auf Futtersuche. Ende August haben sie ihr Idealgewicht erreicht, ehe sie dann Ende Oktober fett, reizüberflutet und ein wenig aggressiv in ihren Bau zurück kriechen.

Auf so einen Unfug kann natürlich nur ein Busfahrer kommen. Und es wäre noch lächerlicher, wenn dieser Vergleich nicht tatsächlich einen Funken Wahrheit enthalten würde.

Bei so vielen verschiedenen Hotels, Ländern kann es gegen Ende der Saison schon passieren, dass man sich früh am Morgen fragt: Wo bin ich eigentlich. Oder dass man in Namibia am Fish-River-Canyon steht und überlegt, ob man etwas verpasst hat und dies vielleicht immer noch der Grand Canyon in Arizona ist…

Da ist es gut, dass man als Reiseleiter von November bis März Winterschlaf halten kann, unterbrochen nur von einer Tour über Weihnachten oder Silvester.

Die Winterpause bietet die Möglichkeit, das Gesehene zu sortieren und zu verarbeiten – und in Gedanken noch einmal zu genießen. Dabei spielt mir das Gedächtnis allerdings den ein oder anderen Streich. Denn wenn ich hier zuhause am Rechner sitze und die Augen schließe, welches Bild kommt zuerst in meiner Erinnerung hoch?

Marseille! Der alte Hafen. Ausgerechnet Marseille! Ich rede ständig mit der Reiseplanerin, diese Stadt aus dem Programm zu streichen und stattdessen lieber beispielsweise Aix-en-Provence mit aufzunehmen. Marseille ist für Busreisen eine Katastrophe: man bekommt kaum einen Parkplatz in der Nähe des Hafens, es gibt keine öffentlichen Toiletten. Wenn man aus der Innenstadt auf die Autobahn in Richtung Nizza will, muss man abenteuerliche Straßen im Schritttempo durchfahren, wirklich schön finde ich die Stadt auch nicht – und dann schleicht sich dieser Ort so hinterhältig in die Erinnerung ein…

Wer reist, erlebt auch lange nachher noch Überraschungen.

Noch ein Wunsch an Euch, an uns alle für 2017: Lassen wir uns immer wieder überraschen!

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