Philipp Ruland: Schuld, Scham und der ganze Scheiß. Meine Geschichte vom Türsteher zum Traumatherapeuten – wie auch du deinen Seelenmüll entsorgst und endlich den Kopf freikriegst. Berlin, Wien: Goldegg 2025, 208 S., ISBN 978-3-99060-436-6, 22,– €
„Eben war ich noch in einer Abiturprüfung gewesen, die ich als absolut machbar empfand. Jetzt brach in mir eine psychische Hölle los. In meinem Kopf lief ein Film ab, in dem ich mich immer wieder in einem Wagen der Müllwerker sah. Und in mir hämmerte eine Stimme: ,Aus dir wird nichts, aus dir wird nichts!’ […] Ich war völlig verzweifelt, und in mir herrschte die pure Angst, während die Stimme in mir hämmerte: ,Du versaust dein Abitur, du versaust dein Abitur, aus dir wird nichts.’“ (S. 127 f.).
Dieses Bekenntnis legt der Saarbrücker Traumatherapeut Philipp Ruland (* 1979) ab, der sich auf die Behandlung von Kindheitstraumata sowie deren Folgen wie Depressionen und Persönlichkeitsstörungen spezialisiert hat.
In seinem Spiegel-Bestseller reflektiert er schonungslos seinen Werdegang vom Schlüsselkind, das aufgrund der Selbstständigkeit der Eltern nachmittags auf der Straße Saarbrückens herumlungerte, über eine dreizehnjährige Karriere als Türsteher mit einem Umweg über eine kurze Anwaltstätigkeit bis hin zum Trauma-Psychotherapeuten. Sein Großvater Franz Ruland (1901–1964), Jurist, war von 1951 bis 1955 Minister für Wirtschaft, Verkehr, Ernährung und Landwirtschaft im Kabinett Johannes Hoffmann und von 1957 bis 1964 Mitglied des Deutschen Bundestages, zuletzt für die CDU. Philipp Rulands Eltern schlugen ebenfalls die Juristenlaufbahn ein. Seine Mutter war die „Tochter einer entwurzelten, gewalttätigen Näherin“. Philipps Großmutter eilte der „Ruf eines leichten oder gefallenen Mädchens“ voraus. Philipps Mutter hatte in ihrem Leben Verachtung in ihrem Leben am meisten erfahren, durch ihre Mutter, die Klassenkameradinnen auf dem humanistischen Gymnasium, die sie wegen ihrer schäbigen Kleidung geringschätzig behandelten, oder die Jura-Kommilitoninnen, die sie für ihre Schönheit hassten und verspotteten, weil sie die Toiletten der Universitäts-Buchhandlung putzte. „Ihr Außerseitergefühl übertrug sich per Muttermilch auf mich“ (S. 23). Philipp und seinem Zwillingsbruder David, der später Schauspieler wurde, berichtete die Mutter immer wieder, wie sie misshandelt und gequält wurde. Ohne es zu wollen, machte sie somit ihre Kinder zu ihren Psychotherapeuten.
Wie auch bei anderen Begebenheiten fügt der Trauma-Psychotherapeut und Autor einen Exkurs an. In diesem Beispiel wird angegeben, dass das Phänomen, dass Kinder in Familien von schwer traumatisierten Menschen eine stützende Funktion übernehmen, Parentifizierung genannt wird, was die Rollenumkehr zwischen Eltern und Kind beschreibt. Parentifizierung wird heute als Sonderform des emotionalen Missbrauchs gesehen.
Ab der sechsten Lebenswoche waren Philipp und David Ruland der Pflege und Fürsorge ihrer Großmutter mütterlicherseits anvertraut, da die Mutter als selbstständige Anwältin in der Kanzlei ihres Mannes mitarbeitete.
Rückblickend auf die Frage, ab wann der Autor psychisch auffällig wurde, erinnerte er sich an die erste Grundschulklasse. Die Eltern, die im lothringischen Spicheren (Spichern) wohnten, schickten ihre Kinder auf die Grundschule im Umfeld der Saarbrücker Moltkestraße, einem Problemviertel, in dem die Anwaltskinder in Polohemden und kurzen Shorts mit Kniestrümpfen auffielen. Rückblickend ist Philipp Ruland dankbar, seine Kindheit in einem solchen Viertel verbracht zu haben, wo es zwar rüde, aber ehrlich und bodenständig zugegangen sei, ohne jegliche bürgerliche Falschheit. Klassenlehrer L. mit der „Feinfühligkeit der Fünfziger- und Sechzigerjahre“, hatte „das besondere Talent, aus Hilflosigkeit Kinder zu beschämen“. Dieser Lehrer, der für Legasthenie kein Verständnis hatte, schrie seinen Schüler Philipp nach einem katastrophalen Diktat an: „Ruland, wenn das so weitergeht mit dir, dann rennst du irgendwann der Müllabfuhr hinterher, das wird so nichts. Wie kann man sich so dumm anstellen, wenn man aus einem guten Elternhaus kommt?!“ (S. 129). Der Autor ist sich sicher, dass dieser Mann vom Herzen her kein verkehrter Mensch war. In seinem späteren Leben, vor allem in seinem Leben in Gewalt habe er, Philipp, wirklich böse und hasserfüllte Menschen kennengelernt. Als sein Lehrer diesen Satz durch die Klasse geschrien hatte, wäre der Junge am liebsten im Erdboden versunken. Dieses Schamgefühl habe sich in seinem Leben fortgesetzt und bei jeder Prüfung wiederholt. Ohne es zu wollen, habe der Lehrer mit seiner Müllabfuhr-Bemerkung eine hypnotische Metapher geschaffen, die sich tief als Suggestion in Philipps Unterbewusstsein eingebrannt habe. Als er auf dem Weg dazu war, das Gegenteil zu beweisen und sein Abitur zu machen, sei sie losgetreten worden. „Das, was er in mein Unterbewusstsein eingepflanzt hatte, war das Gegenstück zu dem, was während der ersten Abiturprüfung passierte, so kam es zu dem innerlichen Ausnahmezustand. Die in der Grundschule gesetzte Suggestion passte nicht zu dem, was gerade eintrat. Dies führte zu dem mentalen Kurzschluss, der eine tiefsitzende Angst aktivierte, nämlich die Angst, dass aus mir nichts werden könnte“ (S. 129 f.).
Der Junge bekam bereits als Grundschüler reichlich Nachhilfeunterricht, weil er auf Wunsch der Eltern unbedingt später ein Gymnasium besuchen sollte. Dadurch blieb kaum Zeit für jugendgemäße Freizeitbetätigung. Mit einsetzender Pubertät geriet er immer stärker in Abhängigkeit von Drogen, Alkohol und Gewalt. Sehr ausführlich lässt der Autor die Leserinnen und Leser an diesen Lebensphasen teilnehmen und an seinen Versuchen, Anerkennung zu finden, etwa als Boxer, oder seiner Beziehung zu Sabrina S. Nach einem selbst verschuldeten schweren Autounfall bat Philipp seine Eltern um Hilfe, die ihm einen Therapeuten vermittelten. Dem Jugendlichen wurden die Ursachen seiner Misere klarer. Aber bis zur Gewissheit vergingen Jahre, in denen der Protagonist Jura und Psychologie studierte und sein Studium als Türsteher finanzierte wegen der finanziellen Schieflage seiner Eltern. Im Nachhinein gesteht der Autor, dass er nirgendwo mehr über die menschliche Psyche, über Freud, Leid und Elend gelernt habe als in seinem Job als Türsteher im Saarland und im Rhein-Main-Gebiet.
Das letzte Kapitel ist mit „Zusammenbruch und Heilung“ überschrieben und besteht aus vier Unterkapiteln. Viele Patientinnen und Patienten leiden seit Jahren an psychischen Erkrankungen, die immer wieder auftreten, weil die Kernursache, die Traumatisierung, nicht erkannt und nicht behandelt wurde. Folglich können die Krankheiten nicht ausgeheilt werden. Ruland, später Lehrtherapeut für Familienaufstellung, besuchte nach Vorschlag seiner Frau selbst ein solches Seminar, blieb aber letztlich immer noch schwer krank. Sein Therapeut Peter N. wollte mit Hilfe der EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), seinen Patienten von seinen hypochondrischen Ängsten erlösen. Durch gezielte Aktivierung beider Gehirnhälften mittels bilateraler Stimulation, etwa durch Augenbewegungen, Klopfen oder Töne, sollen die blockierten Erinnerungen und Emotionen verarbeitet und ins Gedächtnis integriert werden. Während einer solchen Therapiesitzung hatte Philipp den Eindruck, als würde ihn jemand am Unterleib quälen und seine Genitalien herausreißen. Plötzlich tauchten immer mehr Bilder auf, und zwar vom Bad der Wohnung, in der er als ganz kleiner Junge vom ersten bis zum vierten Lebensjahr gelebt hatte. Immer wieder sah er das Bad und das Schlafzimmer, während sich sein ganzer Unterleib in einem Todeskampf befand. Der Kern seiner Versehrtheit lag offen auf dem Tisch und Philipp verstand endlich, warum er es immer so verdammt schwer gehabt hatte. Er war wie viele seiner Patienten ein missbrauchtes Kind, das alles versucht hatte, um nie wieder missbraucht zu werden. Zum ersten Mal konnte er sich mit ganz anderen Augen sehen. Er war nicht das Kind aus einer bürgerlichen Anwaltsfamilie, das aus soziokulturellem Interesse eine Gewaltmilieubesichtigung gemacht hatte, sondern ein von seiner Großmutter missbrauchtes Kind, das sich heilen wollte und sich in seiner Heilung, wie viele Traumaopfer, weiter traumatisiert hatte.
Im Nachwort heißt es, dieses Buch zu schreiben, sei wie eine Katharsis gewesen, eine Reise in lange nicht mehr betretene Zimmer. „Ich bin das lebende Beispiel, dass Traumatherapie funktioniert, wenn Therapeuten willens sind, sich auf die Höllen, die ihre Patienten mitbringen, einzulassen und die richtigen Methoden zu kombinieren“ (S. 206).
Dieses Buch, das auf Grund seiner Bedeutung einen weniger reißerischen Titel und Untertitel verdient hätte, könnte auch Lehrkräfte sensibilisieren, bei Verhaltensauffälligkeiten ihrer anvertrauten Schülerinnen und Schüler die richtigen Lösungswege zu finden. Auch im fächerübergreifenden Unterricht oder während einer Projektwoche könnte Philipp Rulands Monografie behandelt werden. Vergleichend bietet sich die Erzählung „Die Ursache“ von Leonhard Frank aus dem Jahre 1929 an.
Franz Josef Schäfer