Schmetterlinge im Schrank


Schmetterlinge im Schrank

An meinem ersten Schultag übten wir still, hinter dem Stuhl stehen, bis der Erwachsene den 29 Kindern im Raum das Zeichen gab, sich hinsetzen zu dürfen. Die Machtdemonstration des Erwachsenen war beeindruckend. 28 Kinder setzten und erhoben sich auf Grund eines zuckenden Armes. Beeindruckend war auch, dass es mir unmöglich blieb, den Armzuckungen des Erwachsenen die richtige Bedeutung zu geben. Nicht, dass ich es nicht versucht hätte. Doch wenn das eine Zucken bedeutete sich hinzusetzen, konnte ein anderes Zucken unmöglich bedeuten aufzustehen. Ein Zucken und hinsetzen und ein anderes Zucken und aufstehen, stehen doch in keinerlei Verhältnis zueinander. Die Lehrerin hätte das wissen müssen. Warum hat sie nicht gewunken? Warum wusste sie nicht, dass Winken für hinsetzten steht, wenn Zucken aufstehen bedeutet? Ich wurde misstrauisch. Verhältnisse beruhigten mich immer sehr. Wenn man Dinge zueinander in ein Verhältnis stellt, verlieren sie oft ihren Schrecken. Im Gegenzug wurde ich immer sehr aufgeregt, wenn ich kein Verhältnis aufbauen konnte. Als dasselbe unheimliche Armzucken meiner Lehrerin Hinsetzen und Aufstehen bedeutete, wurde ich sehr aufgeregt. Während ich also immer aufgeregter auf ein Winken wartete, verzweifelte der Erwachsene, meine Grundschullehrerin Frau Weil, an meinem Unverständnis. Mit der Zeit übertrug sich die Verzweiflung des Erwachsenen auf mich, und meine linke Augenbraue fing zu zucken an. Je mehr der Erwachsene mit dem Arm zuckte, desto verzweifelter antwortete meine Augenbraue mit einem noch wilderen Zucken. I

Ich stand, wenn die anderen saßen, oder saß, wenn die anderen standen. Ich fing mit dem rechten Auge zu weinen an. Das linke war zu sehr mit Zucken beschäftigt. Schließlich bekam die Lehrerin ein schlechtes Gewissen und ließ von mir ab. Während mich 28 kindliche Augenpaare verständnislos von ihren Sitzen anglotzten, stand ich noch eine halbe Minute. Dann setzte ich mich auf meinen Stuhl und wischte die Tränen aus meinem rechten Auge. Meine linke Augenbraue wackelte dann noch eine Minute. Noch heute muss ich meine linke Augenbraue festhalten, wenn jemand in meiner Gegenwart zuckt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.