Johannes Chwalek: „Skizzen eines Schachspielers. Erzählungen“, 178 Seiten. Stuttgart: Scholastika Verlag, 2021, ISBN 978-3-947233-58-8. Euro 16,50,-
Die Nachträge seines Romans „Gespräche am Teetisch“ (Frankfurt / M.: edition federleicht, 2019) schliesst Johannes Chwalek mit den Worten:
„Eine neue Geschichte begann: die Verteilung des kleinen Erbes und der Verkauf des Hauses. Diese neue Geschichte war indessen noch immer die alte, wie ich bald merkte. Es käme nur darauf an, sie neu zu erzählen.“ (S. 187)
Genau das leistet die erste und umfänglichste der sechs Erzählungen des Bandes „Skizzen eines Schachspielers“. „Die Biertischgarnitur“ (S. 4-83) ist „Eine Erbengeschichte“. Ein Auszug, der sich verzögert, Auszüge, die fehlen, mögen viele ganz reale Erbengeschichten strukturieren. Aber während Erbengeschichten als gemeinschaftliches Strukturieren eines „Danach“ durchaus zukunftsorientiert sein und verlaufen können, bietet diese Erbengeschichte eine Gegenwart, die zutiefst von einer traumatischen Vergangenheit geprägt ist. Jeannots „Rückkehr“ ist ein alles andere als leichter „Gang durchs Haus“ (S. 4). Er und seine Geschwister aus der ersten Ehe des Vatters wurden von der Stiefmutter und Mutter zweier Halbgeschwister physisch und verbal martialisch, bestialisch gequält. Der Vater war nicht die Berufungsinstanz und der Schutz, die er für seine Kinder aus erster Ehe unbedingt hätte sein müssen, im Gegenteil: er war der „Sekundant“ (S. 5).
Erlittenes Unrecht verlangt ein Forum, um laut zu werden, um Klage zu erheben. In einer scharfen und zugespitzten zeitgeschichtlichen Analyse benennt der potentielle Kläger die Unmöglichkeit seines Unterfangens:
„Das Publikum hält sich für aufgeklärt und betrachtet das Böse für nicht existent. Drei Kränkungen der Menschheit durch einen Astronomen, einen Biologen und einen Psychologen haben die hohe Meinung des Publikums von sich selbst kaum erschüttern können. Die Verbannung aus göttlicher Beachtung im Zentrum des Universums hin zu kosmischer Randexistenz, die Wandlung von göttlicher Erschaffung zum Produkt einer Jahrmillionen währenden natürlichen Entwicklung und zudem der Entzug des Prädikats eines Geisteswesens zugunsten einer überwiegend triebgesteuerten Kreatur hinterließen allenfalls Kratzer. Noch immer hält sich das Publikum für vorrangig geistig und vernunftgemäß und dem Bösen – wenn es überhaupt jemals vorhanden gewesen sein sollte – im Laufe des Zivilisationsprozesses entronnen. So hat sich ein Denken breitgemacht, das das Böse in immer größere Zusammenhänge stellt, bis es sich verwässert und unkenntlich wird. Bezahlt wird dieses Denken mit der Ignoranz der Opfer. Ihre Existenz stellt eine Verlegenheit dar für die Theoretiker der Nichtexistenz des Bösen. In der Folge bleiben die Opfer allein.“ (S. 6)
Am Ort seiner kindlichen Qual stellt Jeannot frühzeitig fest:
„Erinnerungen! An die Chronologie werdet ihr euch nicht halten.“ (S. 9)
„Machtlosigkeit“, „ausgeliefert“ lauten die Stichworte, die sie subsumieren – und die Halbschwester wandelt als Erpresserin auf dem von ihrer Mutter vorbereiteten Weg. (S. 11)
Und die Geschwister aus der ersten Ehe des Vaters, die Leidensgenossen? Das Fazit ist bitter: „keine Solidarität (…) keine Revolte“ (S. 14). Es ehrt den Autor, dass er die Ausnahmen treulich aufführt, die diese Regel bestätigen: Harry: „Das geht doch nicht!“ (S. 24), Gerlinde: „Ja, aber der Jeannot kann nichts dafür, oder?“ (S. 25) „Beim Abendessen sagte Bert der Stiefmutter, ich bekäme noch eine Aversion gegen Frauen, wenn sie mich weiterhin ‚so‘ behandeln würde.“ (S. 39) Gleichwohl hat sich der Kontakt nicht nur zu den Halbgeschwistern, sondern zu allen Geschwistern „merklich ausgedünnt“. (S. 21)
Eine Randnotiz, aber eine passgenaue: Jeannot und seine Frau haben sich zweier Hunde angenommen, von denen der Autor schreibt: „Beide haben es schlecht gehabt in ihrem früheren Leben.“ (S. 25)
Stiefmutter und „Sekundant“ haben Jeannot „loswerden“ (S. 27) wollen – das genau hat den vielleicht einzigen möglichen Weg in die Freiheit geebnet. Bitter stößt ihm nach wie vor die vom Vater verordnete „Lobhudelei“ (S. 29) für die Stiefmutter auf, der Zwang, ein bitterböses Spiel mitzuspielen. Jeannots ältere Geschwister folgen – im Blick auf das erlittene Unrecht – der Massgabe und Regie-Anweisung des Vaters: „Alles soll vergessen sein.“ (S. 32) Jeannots verzweifelter (letztlich erfolgreicher!) Versuch, der Sprachlosigkeit (. S. 33) zu entkommen, „Gegenstimme“ (S. 38) zu sein, die verbale Gewalt der Stiefmutter zu „widerlegen“ (S. 35) – traf von Kindheit an rigideste Urteile: „Undankbarkeit“, „Verworfenheit“ (S. 41) – letzteres in seiner geradezu theologischen Qualität nicht mehr in Frage zu stellen.
Und die „Biertischgarnitur“, der Auszug, der verzögert wird, die Auszüge, die fehlen? All das liest sich als eine charakteristische, erschütternde, ja, stellenweise auch amüsierende „Erbengeschichte“. Es kommt in der Erbauseinandersetzung zur Parteienbildung, die einer ersten Vermutung (hier die Kinder aus erster, da jene aus zweiter Ehe des Vaters) berührenderweise NICHT entspricht. Die Erbengeschichte ist – wenn nicht Abschluss, so doch – Ausfluss der Leidensgeschichte Jeannots. Sagt sie als Erbengeschichte etwas aus, was sich über seine ganz individuelle Biographie hinaus verallgemeinern lässt? Ich denke, ja: Erbauseinandersetzungen sind keine blosse Geschichte des Haben- und Bekommen-Wollens, der materiellen Ansprüche. Sie haben mehr, sehr viel mit Kindheit und Elternhaus zu tun, mit den Rollen der einzelnen – selbstgewählten, aber auch solchen, auf die andere einen festlegen. Hier ist etwas, das tiefer geht als ein Aufteilen von Gütern und weiter reicht, als es selbst eine gütliche Einigung über das Materielle allein ahnen lässt.
Ich möchte exemplarisch noch eine weitere der sechs Erzählungen des Bandes in den Blick nehmen. Der Ich-Erzähler begegnet darin dem früheren Rektor des Internats, das er einst besuchte. „Otto Lause“ (S. 142-166). Diese Begegnung scheint mir ein Musterstück von Achtsamkeit. Am Anfang wird eine besondere Erinnerung wach: der Rektor, der mit den Einser-Schülern verschiedener Jahrgangsstufen, Klassen und Fächer zum Hähnchenessen und Limonadetrinken in die Stadt geht. (S. 143) Die Begegnung nach Jahrzehnten ist grundlegend von Sympathie geprägt. Sie beruht nicht unbedingt auf einer lupenreinen Erfolgsgeschichte des Rektors. Vielleicht sogar eher darauf, dass einer, der das Gute will, unmöglich alles falsch machen kann. Eine „beinahe-Revolution“ (S. 145) deutet darauf, dass er vielleicht kein „glückliches Händchen“ hatte, vielleicht überfordert war. Das nimmt dem stillen, bescheidenen, wohl auch recht zurückgezogen lebendem Mann nichts von der Sympathie, die er ausstrahlt. „Der Mensch braucht wenig, um wieder zufrieden zu sein“, lautet gleichsam sein Credo. Das kann, wie der ehemalige Schüler mit sehr viel Empathie erinnert, eine Zigarre sein. (S. 147) Wie viel glücklicher noch der Beschenkte, als er erfährt, dass der Schüler sogar noch um die einmal erwähnten Studienfächer seines Rektors weiss! (S. 149) Der einen Moment lang „verwirrt“ (S. 153) erscheinende Otto Lause ist tatsächlich im Vollbesitz seiner geistigen und intellektuellen Kräfte. „Man muss Abschied nehmen können.“ (S. 155) Diese eigene Maxime beherzigend vermag der ehemalige Rektor „nun doch“ (S. 156) dem Vorschlag des früheren Schülers nachzukommen und das alte Konvikt zu besuchen.
Im Grenzbereich von Philosophie und Theologie tut sich ihm jene Gelassenheit auf, mit der er sich aller resignativen Anwürfe des Alters zu erwehren weiss: „Was Sie bewegt, können Sie nachlesen bei Kierkegaard: in der beruflichen und familiären Pflichterfüllung gibt es kein letztes Genügen. Angesichts des immer deutlicher werdenden Zeitstrahls, der nur eine Richtung kennt, wird Ihnen das unumstößlich gewiss.“ (S. 160) „Bei Meister Eckhard gibt es sinngemäß eine Stelle, wo Gott immer schon anwesend war und ist, aber das Ich oder der Verstand ihn als abwesend deklariert.“ (S. 160 f.) „Gnothi seauton = Erkenne und verstehe zunächst einmal dich selbst.“ (S. 161) „In der Meditation gibt es Momente der grössten Wachheit und Stille.“ (S. 161) Der Ich-Erzähler lauscht diesen Ausführungen berührt und fasziniert. Der Leser nicht minder.
Rüdiger Jung