Viele Marien und ein paar Reiseleiter


 

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Viele Marien und ein paar Reiseleiter

In dem kleinen südfranzösischen Ort Les Saintes Maries de la mer gibt es eine Tradition, von der ich erzählen möchte.

Doch bevor ich dazu komme, bin ich denen, die ein wenig Französisch können, eine Erklärung schuldig: „Les Saintes Maries“ – das ist ja nun eindeutig Plural. Aus dem Neuen Testament kennen wir eine Heilige Maria – und nun also gleich mehrere? Hat es da ein Update gegeben, das an uns vorbeigegangen ist?

Nun, glaubt man den Menschen dort an der französischen Mittelmeerküste, dann gab es mindestens vier Heilige Marien, neben der allgemein bekannten noch Maria Magdalena, Maria Jakobaea und Maria Salome (mitunter wird auch eine Maria Josepha und eine Maria Kleophae erwähnt), allesamt mit der Mutter von Jesus mehr oder minder eng verwandt. Diese wurden nun von den Häschern nach der Kreuzigung Jesu in ein kleines Boot ohne Ruder und Segel vor Israel ins Meer gesetzt – und ein wohltätiger Sturm in Verbindung mit der Vorsehung trieb die Nussschale bis an die Küste der Camargue.

Hier geht nun die Überlieferung auseinander. Einige behaupten, dass sich an Bord neben den Marien auch eine schwarze Dienerin, Sara, befunden hätte. Unternimmt man jedoch von Les Saintes Maries aus eine Bootsfahrt in die Camargue, erzählt der Kapitän eine andere Variante, dass nämlich in der Nähe des heutigen Arles fahrendes Volk sein Lager aufgeschlagen hätte, und dort sei ein Mädchen namens Sara in der Nacht durch eine Stimme vom Himmel aufgefordert worden, ans Meer zu eilen, wo sie die entkräfteten Marien fand und ihnen fortan als Dienerin beigestanden hat.

Das alles ist schon so lange her, da bringt man mitunter etwas durcheinander.

Jene Sara allerdings, die ist bis heute lebendig, zumindest in der Erinnerung. Die „Schwarze Sara“ gilt als Schutzpatronin des fahrenden Volks, das deshalb jährlich eine große Feier ihr zu Ehren abhält. Egal ob sie sich nun Sinti, Jenischen, Roma, Manouches oder Gitanes nennen, sie alle treffen sich um Pfingsten herum in Les Saintes Maries, dazu kommen die Züchter der weißen Pferde und schwarzen Stiere aus der Camargue, und die Arlesiennes, Frauen aus Arles in den traditionelle Trachten.

Und alle feiern das Leben als Reise.

Eigentlich sollten diese Tage auch ein Pflichttermin für Reiseleiter sein. Reiseleiter zählen, genau genommen, ja auch zu fahrenden Volk…

Als Ersatz dafür gibt es, zumindest bei dem Reiseunternehmen, für das ich arbeite, Anfang März eine „Reiseleiterausfahrt“. Die Saison über ist man als Einzelkämpfer unterwegs (stimmt nicht – im Doppelpack mit dem Busfahrer), hier nun kann man sich in Ruhe unterhalten. Man kann auch schon am Vormittag ein Bier oder einen Sekt schlürfen, sich Tipps geben, wo es besonders reizvolle Ecken gibt und worum man am besten einen großen Bogen machen sollte. Man kann herzhaft über den ein oder anderen Reisegast lästern, aber, da unsere Reisegäste natürlich immer liebe und nette Menschen sind, sind alle diese Lästergeschichten als vom vormittäglichen Alkohol inspirierte Schauermärchen zu werten…

Es ist im Grunde egal, wohin die Ausfahrt geht, meist ist eine Stadtführung oder Ähnliches dabei. Der gebuchten Stadtführerin oder dem Stadtführer schlottern vorher schon die Beine, wenn er hört, dass seine Gruppe lauter Reiseleiter sind, die ja bekanntlich immer alles kennen und wissen und – das vor allem – besser wissen. Hinterher sind sie dann erleichtert und erfreut, weil das mit dem Besserwissen ja eine Art Berufspflicht ist und wir ansonsten, insbesondere gegenüber Kollegen von der fahrenden Zunft (da wollen wir mal die Stadtführer generös mit dazurechnen) ganz lieb und handzahm sind.

Mitunter läuft einem dann sogar ein ausgewachsener Ministerpräsident über den Weg und ist ganz zutraulich, schließlich sind es ja wir Reiseleiter, die potentiell zahlungskräftige Touristen in seinen Sprengel führen könnten.

Abends wird in einem Hotel gegessen, getrunken, manchmal gebowlt und vor allem: geredet. Jeder versucht, seine besten Sprüche loszuwerden und gleichzeitig die der Anderen aufzuschnappen und sich zu merken. Auf einer Tour wie der Schottland-Irland-Rundreise, wo man mit den Gästen circa 4000 Kilometer im Bus sitzt, kann man gar nicht genug witzige (und manchmal auch dumme) Sprüche kennen.

Vor allem sind bei dieser Ausfahrt die meisten von uns schon in angenehm vorfreudiger Erregung. Es ist Anfang März, die Temperaturen steigen – und in ein paar Wochen beginnt die Saison. Über Weihnachten und Silvester sind nahezu alle auf Tour gewesen, aber diese Feiertagsfahrten zählen nicht richtig. Zwischen März und Oktober, das ist die Zeit, in der wir als fahrendes Volk durch die Welt ziehen.

Im Januar gab es die Planung, das ist dann für mich der härteste Tag des Jahres: Wenn ich meiner Familie erkläre, wo überall ich hinfahre, während gleichzeitig beispielsweise meine Frau jeden Tag auf ihre Arbeit fährt. Jeden Tag an den gleichen Ort.

Es gibt Reiseleiter, egal ob weiblich oder männlich, deren Ehe daran kaputtgegangen ist, auch das gehört dazu. Und man muss dieses „Zigeunerleben“ mögen, sonst macht man diesen Job vielleicht ein Jahr und nicht länger. Man muss das Reisen lieben und gleichzeitig wissen, was man an seinem Zuhause und seiner Familie hat, dann kann es gutgehen. Klopfen wir mal auf Holz…

Es geht los. Wenn ich diesen Beitrag ins Netz gestellt habe, werde ich meinen Koffer schnappen, der Bus bringt mich und meine Gruppe zum Flughafen und dann spielt sich im kommenden halben Jahr mein Leben zwischen Reykjavik und Kapstadt und zwischen Wien und Los Angeles ab. Ich werde viel Bekanntes wiedersehen und Neues kennenlernen, eines ist so schön wie das andere.

Ja, ich bin weltsüchtig, so könnte man das nennen. Dazu kommt, dass ich in einer Ecke des Landes wohne, wo die Nachrichten im Radio, auch bei den Öffentlich-Rechtlichen, etwa so aussehen: Meldung 1: In der Kleinstadt X ist ein Sack Kleie umgefallen. Personen wurden nicht verletzt, der Bürgermeister bat die Bewohner um Besonnenheit. Meldung 2: Der Oppositionsführer im Landtag des betreffenden Bundelandes hat wegen des umgefallenen Kleiesackes den Rücktritt des zuständigen Ministers wegen Untätigkeit verlangt. Heute sei es nur ein Sack Kleie, demnächst dann vielleicht ganze Wolkenkratzer, die umfallen (auch wenn es in dem Bundesland keine gibt). Meldung 3: Der Minister lehnt den Rücktritt ab und verweist darauf, dass in seinem Haus seit Wochen mit Hochdruck daran gearbeitet werde, einen Gesetzentwurf gegen das Umfallen von Säcken zu erarbeiten. Dieser solle noch in dieser Legislaturperiode vorgelegt werden.

Für den ganzen Rest der Welt bleiben dann die dreißig Sekunden vor Wetter und Verkehr. Schreibt man den Sender daraufhin an, erhält man als Antwort, dass „die Menschen“ das so wollten. Wenn man das mit dem Sack Kleie nicht brächte, dann würden die Menschen denken, man verheimliche etwas, und schnell ist wieder von der Lügenpresse die Rede…

Zeit rauszukommen. Und die Leute, die mit mir fahren, die wollen (sagen wir: in 95% der Fälle) auch Neues kennenlernen. Die Welt ist zu groß und zu schön und zu vielfältig, um den ganzen Tag nur Kleiesäcke zu zählen.

Das Leben ist eine Reise und diese Reise soll ein Fest sein.

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