Wie es bröckelt und schwindet Erzählung, Teil 3


„Ja, das war ein Buch mit Heiligen-Geschichten.“

„Heiligen-Geschichten?“ fragte der Präfekt.

„Heiligen-Geschichten aus der frühen Zeit des Christentums“, ergänzte ich, „sie sind alle getötet worden.“

„Aha, also Märtyrer-Geschichten. – Erzähle!“

„Was die einzelnen Geschichten betrifft… Richtig erinnern kann ich mich nur noch an eine einzige. Sie handelte von einer jungen Frau, ich glaube, einer Römerin. Ihr Vater wollte nicht, dass sie sich zum Christentum bekehrte. Dafür sperrte er sie in einen Turm ein, als er auf Reisen ging.“

„Sicherheits-Verwahrung“, lachte einer der älteren Schüler. Der Präfekt sah sofort wieder mich an, dass ich weitererzählen solle.

„Die Tochter ließ sich aber nicht abbringen vom Christentum“, fuhr ich fort, „als der Vater von der Reise zurückkam, sah er schon von weitem ein drittes Fenster, das die Tochter in den Turm hatte schlagen lassen.“

„Das hat ihn nicht erfreut“, meinte ein anderer älterer Schüler.

„Nein, es hat ihn nicht erfreut. Die Tochter wurde dafür sogar getötet. Wie, das weiß ich nicht mehr“, sagte ich.

„Die heilige Barbara“, nickte der Präfekt. Dann sah er in die Runde und meinte mit einem, wie mir schien, listigen Gesichtsausdruck:

„Jean hat vorhin etwas sehr Merkwürdiges gesagt; ich weiß nicht, ob es einem von euch aufgefallen ist – er sagte nämlich, dass er sich von den vielen Geschichten über die frühen Märtyrer des Christentums nur eine einzige hat merken können; trotzdem nennt er das Buch zusammen mit der Wildschwein-Geschichte als eines, das ihn besonders fasziniert hat. – Wie kommt das? (an mich gewendet) Wie sollen wir das verstehen?“

Jetzt musste ich kurz nachdenken – aber eigentlich handelte es sich nur darum, dass ich meinen Mut behielt und mich nicht klein fühlte im Kreis des Präfekten und der älteren Schüler; im Studiersaal (der manchmal auch eine Bibliothek war, wovon gerade wieder nichts zu sehen war), wo statt der Pulte ein großer runder Tisch aufgestellt war, der in der Mitte ein großes Loch hatte, in dem sich nichts befand, und an dem sie saßen und Wein tranken und einige wie der Präfekt Pfeife rauchten, der an die hohe Decke des Saales stieg.    

„Ich habe die beiden Bücher kurz hintereinander gelesen, erst die Wildschweingeschichte, dann die Heiligen- oder Märtyrer-Geschichten. In der Wildschweingeschichte wurde weit ausgeholt und ein ganzes Wildschwein-Leben beschrieben; die Märtyrer-Geschichten sind alle viel kürzer und behandeln ein bestimmtes Thema: wie die Hauptpersonen sich in der Römerzeit zum Christentum bekehrten und wie sie dafür sogar den Tod auf sich nahmen.“

„Hm, ich verstehe noch nicht genau, was du sagen willst, Jean“, meinte der Präfekt.

„Eine Geschichte, die ein ganzes Buch füllt, und eine andere, die nur zwei, drei Seiten lang ist“, versuchte ich mich zu erklären, „trotzdem hat auch die kurze Geschichte einen Anfang und ein Ende und ich hatte als Leser das Gefühl, dass ich alles mitgeteilt bekommen hatte, was es zu wissen gab.“

Der Präfekt schlug anerkennend mit der flachen Hand auf den Tisch:

„Wie man über ein Buch denkt, hängt also auch damit zusammen, welches Buch man vorher oder nachher liest – das ist gar nicht so verkehrt!“

„Ich verstehe aber immer noch nicht…“, sagte einer der älteren Schüler.

„Das ist mir vollkommen klar“, schnitt ihm ein anderer das Wort ab, „Jean hat zum ersten Mal die Möglichkeiten der Sprache bewusst wahrgenommen. Wenn er weiter liest und nachdenkt, kann er uns sicherlich noch manchen spannenden Gedanken mitteilen.“

„Der Meinung bin ich auch!“ sagte der Präfekt, „Jean hat uns in Kurzform über zwei Bücher berichtet, indem er den Inhalt skizziert und einen Gedanken zur Form der Bücher oder Texte geäußert hat. Nur von der Form her lassen sich die ganz unterschiedlichen Bücher sinnvollerweise auch vergleichen.“

Ein Schüler – der Unterprimaner Galatus M. – hob die Hand zum Zeichen, dass er etwas sagen wolle, der Präfekt nickte ihm zu.

„Ich stelle den Antrag, dass Jean eine neue Einladung erhält.“

Zustimmendes Gemurmel erhob sich. Der Präfekt meinte:

„Der Antrag ist angenommen. (zu mir gewendet) Wir danken dir, dass du uns zu später Stunde besucht und von deinen frühen Leseeindrücken erzählt hast! Mittlerweile liest du ein Werk von Hermann Hesse, wie ich heute in der Abendfreizeit feststellen konnte – darüber und vielleicht noch über manches andere Buch berichtest du uns vielleicht einmal zu einem späteren Zeitpunkt. Nimm als kleines Zeichen unseres Dankes diese alte Ausgabe von Hesses ‚Demian’! Ich lege dir das Buch nachher in dein Pult im Studiersaal, weil du es nicht mitnehmen kannst in den Schlafsaal.“

Er überreichte mir das altmodisch aussehende Buch, das aber noch gut erhalten war. In der Verwirrung, die sich plötzlich meiner wieder bemächtigte, stammelte ich ein „Danke“, blätterte kurz in dem Werk und entdeckte die Fraktur-Schrift, in der es gedruckt war. Der Präfekt beobachtete mich, sagte aber nichts, sondern lächelte nur und ließ sich „Demian“ von mir wieder aushändigen.

„Gerold, wenn ich dich bitten darf“, sagte er dann zu Gerold H., der sogleich aufstand und zu mir ging.

Ich begriff, dass mich Gerold H. nach oben zum Schlafsaal begleiten sollte, hielt dies aber für überflüssig. Doch bevor ich einen Einwand vorbringen konnte, winkte der Präfekt schon ab:

„Nein, nein, Gerold H. muss dich schon zur Schlafsaaltür begleiten, es geht nicht anders.“

Die Stimme des Präfekten hatte sich verändert. Sie war von der vorigen überwältigenden Freundlichkeit etwas ins Gewöhnlich-Bestimmende abgefallen, was mich ernüchterte. Außerdem hatte er gesagt „es geht nicht anders“, was ich zwar nicht verstand, mich aber einschüchterte. Hatte es vielleicht mit dem merkwürdigen Verhalten des Rektors auf dem Schlafsaalgang zu tun, dass mich Gerold H. begleiten sollte?

Ich verabschiedete mich – sicherlich etwas linkisch. Im Tonfall des Gegengrußes, den mir die älteren Schüler entrichteten, und im Glanz ihrer Augen schimmerte schon wieder ein klein wenig Langeweile und Überlegenheitsgefühl durch, wie es in unserem Alltag im Verhältnis der Älteren zu den Jüngeren üblich war. Oder empfand ich es nur deshalb so, weil mich plötzlich die Müdigkeit anfiel?

Gerold H. begleitete mich stumm nach oben. Bevor ich die Schlafsaaltür öffnete, suchte ich mit den Augen den Rektor. Er stand am anderen Ende des Ganges und schien mich genau zu beobachten. Schnell sagte ich Gerold H. gute Nacht und verschwand im Schlafsaal.

Ich dachte, ich würde vor Müdigkeit sofort einschlafen, und es mag auch so gewesen sein, trotzdem schoss mir noch ein Gedanke durch den Kopf: Ob der ältere Schüler, der den Präfekt gefragt hatte, ob er Pfeife rauchen dürfe, zum ersten Mal in der Runde war. Hatten die anderen nicht einfach ohne zu fragen ihre Pfeifen hervorgeholt, gestopft und angezündet?

 

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