Harmonia mundi — Traumzeit


Harmonia mundi — Traumzeit

 

22.02.2016

 

Nimmt man etwa Beethovens 9. Sinfonie, oder auch Bachs „Toccata und Fuge in d-Moll“ und seziert sie mit analytischem Verstand, so bleiben nur noch Fragmente aus Noten, Takten, Anweisungen u.v.a.m. übrig. Das, was uns Zuhörer an diesen Werken seit Jahrhunderten begeistert, zerfällt zu einem Wust an Noten, leblosen Zeichen, toten Buchstaben gleich. Das Bewegende, das uns Angehende, das uns Begeisternde, das, was wir als Vollzug der Musik erleben — all das zerfällt in der rationalen Analyse zur „leichenstarren Fraktur“. Die „universelle Sprache der Musik“, die eben noch zu uns sprach, die uns ansprach und bewegte, sie wird im „reinen Lichte der ratio“ sprachlos, für den Laien geradezu nichts-sagend.

Ähnliches, so scheint mir, gilt auch für die sog. „Harmonia mundi“, dieses äußerst subtile „Hintergrund Rauschen“ einer göttlichen Schöpfung. Wer es wahrnehmen will, muss sich dem Schweigen und der Versenkung anvertrauen. Mystikerinnen und Mystiker aller Kulturen und Zeiten vermochten diese An-Sprache des Numinosen wahrzunehmen. Ebenso die Naturvölker in ihren unterschiedlichen Weisen des Animismus‘ (vgl. etwa der „Traumpfad“ bzw. die „Traumzeit“ der Aborigines). Nähert man sich dieser Spiritualität mittels „westlicher“ Rationalität, so verlischt ihre Ausstrahlung. Der rationalen Analyse erscheinen „Harmonia mundi“ und „Traumzeit“, etc., als ob sie nicht wären. Dabei ist es jedoch ein Mangel des Verstandes, der Ratio, dass er keinerlei Zugang zu dieser Wirklichkeit findet — und nicht umgekehrt.

So sehr auch dieser moderne Verstand, diese alles zersetzende Rationalität, die Menschen eroberte und damit deren Welt-Sicht, deren Ansichten, deren Perspektiven prägte, ja determinierte — so ist sie zugleich doch auch eine enorme Einengung und verheerende Verarmung des modernen Menschen. Denn alles, was nicht „Maß“ noch „Zahl“ werden mag, all dieses Wirkliche, fällt aus diesem eindimensionalen, rein rationalen Welt-Denken, aus diesem Partikular- und Partikel-Wissen als etwas Irrationales heraus. Was der Verstand nicht zu erfassen und zu begreifen vermag, was er sich nicht als „Objekt“ gegenüberzustellen und distanziert zu bertrachten vermag (vgl. das Problem der „Subjekt-Objekt-Spaltung“ etwa bei Karl Jaspers), alles, was er nicht zu definieren und „auf den Begriff“ zu brinden vermag, all das gilt ihm entweder als ein Irrationales oder schlimmer noch, wird von ihm als ein „Nichts“ abgetan. Und mehr noch: Das Einheit Stiftende der Bezüge und Beziehungen — das, was in der Spannung von „Bogen“ und „Saite“ erst Ton und Harmonie erzeugen kann — all das geht in der Bewegung zu immer kleineren und kleinsten Verstandes-Teilchen verloren. Zuletzt bleibt bei aller rein rationaler Welt-Sicht — und sei dieser „Horizont“ auch noch so weit ausgespannt — nur noch ein konfettihaftes, untereinander beziehungsloses Nebeneinander eines Welt-Seins übrig.

Paradoxa: Weder die vielbeschworene „Freiheit“ noch die sehnsüchtig gesuchte „Liebe“ des modernen, rational-analytischen Menschen, weder die „Harmonia mundi“ noch die „Traumzeit“ lassen sich durch „Maß“ und „Zahl“ berechend beweisen. „Maß“ und „Zahl“ sind die Ordnung schaffenden Instrumente des analysierenden Verstandes. Der experimentelle Beweis dient ihm als Grundlage für alles „Richtige“. Allein: alles Wesentliche, alles Wirkliche bleibt diesem Verstand unerreichbar, unantastbar, unerfahrbar und damit auch unbegreifbar. Er ist hierfür das „falsche“ menschliche Vermögen; die „falsche“ Sprache, das unbrauchbare „Werkzeug“, das nicht-entsprechende „Instrument“. „De docta ignorantia“, wie es Nikolaus von Kues prägnant kennzeichnete.

Wir können Wirklichkeit, Wesentliches, Wahres nur mit unserem existenziellen Mensch-Sein erfahren. Seien es nun die Harmonien der universalen Musik, seien es metaphysische Wirklichkeiten eines Numinosen, seien es menschliche Wirklichkeiten wie etwa Freiheit und Liebe. Zwar sind wir auch dieses andere menschliche Vermögen, das das „Hintergründige“ zu erleben und erfahren vermag. Allein, es gerät selbst immer stärker an den Rand menschlicher Existenz — bei Seite gedrängt durch des Menschen Rationalität. Nur mehr ein „Schatten-Dasein“ seiner selbst. Derweil sich der „moderne Mensch“ selbst immer schneller und umfassender zu einem digitalen Zwitter-Ding — immer weniger Mensch, immer mehr „Matrix“ — entwickelt, das sich „existenziell“ stets umfangreicher mit bloßen „Bits“ und „Bytes“ und „virtuellen Welten“ identifiziert…—

Aber woher dann des heutigen Menschen unstillbare Sehnsucht nach allem „Fernöstlichen“, „Indischen“ und „Exotischen“, wie etwa Zen-Buddhismus und Yoga-Philosophie, ja selbst noch nach plattestem Okkultismus…—?

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