Thomas Berger, Erzählung, aus: Freiheit grenzenlos, Anthologie FDA Hessen, Edition Blaue Feder, Dieburg 2014, Seiten 167/168
WERKTAG
Ein Mann fortgeschrittenen Alters, der viele Jahre lang seinen Dienst vollkommen zuverlässig und also, ohne auch nur den kleinsten Tadel auf sich zu ziehen, verrichtet hatte, erschien eines Morgens nicht im Büro.
Die anwesenden Angestellten waren zwar erstaunt, hielten des Kollegen Fernbleiben indes–alles andere schien ihnen gänzlich ausgeschlossen–für beruflich bedingt, nämlich von höherer Stelle veranlasst. Freilich – das wussten sie – war der Mann, der auch im Erkrankungsfall stets seiner Arbeit nachgekommen war, bisher nie außer Haus eingesetzt worden.
Es herrschte jedenfalls allgemeine Gewissheit, dass jemand, der absolut pflichtbewusst war und sich niemals zu einer unkontrollierten Äußerung oder Verhaltensweise hinreißen ließ, einzig aus dem erwähnten Grunde abwesend sein konnte. Und zudem hatte keiner der Vorgesetzten am Arbeitsplatz Erkundigungen einziehen lassen, was andernfalls doch zweifellos geschehen wäre.
Nun brachten aber die folgenden Tage keine Veränderung außer der Tatsache, dass sich – niemand wagte die gefürchtete Leitung um Auskunft zu ersuchen – das Gerücht erhob, man habe natürlich gleich am ersten Tag einen Boten zur Wohnung des Mannes geschickt. Dieser sei zwar empfangen worden, habe aber ohne jede Erklärung zurückkehren müssen. Daraufhin sei der Druck auf den Säumigen verstärkt und der stellvertretende Leiter der Personalabteilung, ein aufbrausender Charakter, selbst zu dem Mann entsandt worden.
Er sei auch ohne Weiteres eingelassen worden, habe indessen ebenfalls kein Wort der Aufklärung oder Entschuldigung aus dem bislang immer Zuvorkommenden und dem Unternehmen allzeit Ergebenen herauslocken können. Auch schreiend sei ihm dies nicht gelungen, so dass er schließlich mit glühendem Kopf das Haus verlassen habe.
Das Gerücht wandelte sich ein wenig von Mund zu Mund, endete aber stets mit den Worten, der Kollege habe beide Male den Abgesandten vom Fenster aus lächelnd hinterhergewunken.