AM TEICH
Wann würde der Regen aufhören? Die Greisin stand am Fenster ihres kleinen, mit den Jahren schadhaft gewordenen Hauses und blickte missgelaunt in das Novembergrau, das die kahlen Obstbäume des Gartens umhüllte. Seit dem Morgen des schier endlosen Sonntags regnete es. Ein kalter Wind wirbelte Laub auf.
Die Frau hatte den gewohnten Kirchgang unterlassen. Aber nicht nur dieser Umstand dehnte die Zeit. Sie wusste, der Tag, an dem die Geschäfte des Ortes geschlossen blieben, würde lang für sie werden. Besuch erwartete sie schon lange nicht mehr, auch an Festtagen und ihrem Geburtstag blieb sie meist allein. Doch nun kam hinzu, dass die Greisin den für ihre fast immer müden Beine ziemlich weit entfernten Park nicht aufsuchen konnte.
Die recht ausgedehnten Grünflächen lagen ein gutes Stück Wegs hinter der Pfarrkirche, und dort befand sich ein großer Teich. Üblicherweise ging sie im Anschluss an die sonntägliche Messfeier dorthin. Der anhaltende Niederschlag hielt sie diesmal, wir wissen es bereits, davon ab.
Das war in besonderem Maße betrüblich für sie; denn in der vertrauten Parkanlage die zahlreichen Enten zu füttern, bereitete ihr kein geringes Vergnügen, ja, es war ihre eigentliche Sonntagsfreude. Genau besehen, war es das einzige ungetrübte Glück in ihrem längst ereignislos gewordenen Leben. Früher hingegen, als der Mann und die vier Kinder noch im Haus lebten, hatten Arbeit und Sorge die Tage bestimmt und ihnen eine sinnvolle Ordnung gegeben. Aber das lag weit zurück.
Unglücklich allerdings war sie im genauen Wortsinn nicht. Sie hatte ja ihre Erinnerungen, und einmal im Jahr, während der Sommerfrische, kamen die Kinder – zumeist gemeinsam – mit ihren Familien angereist. Auf diese zwei, drei Tage lebte sie hin, und von ihnen zehrte sie, wenn sie fortgefahren waren, um erst ein Jahr später wiederzukommen.
Nach solch ersehnten Besuchen Bilanz zu ziehen, hätte ihrem Wesen nicht entsprochen. Hätte sie es dennoch getan, so wäre diese durchaus ernüchternd ausgefallen, und zwar in dreierlei Hinsicht. Zum einen pflegte sie mit ihren Kindern und der Enkelschar im Restaurant zu essen – eine Besonderheit, die sie sich allein niemals gönnte – und jedes Mal die keineswegs niedrige Rechnung zu begleichen. Zum anderen drückte sie beim Abschied auch noch regelmäßig jedem Enkelkind einen Geldschein in die Hand. Und vor allem wäre ihr dann zu Bewusstsein gekommen, dass sich die Leere nach dem seltenen Zusammensein und die Freude über das Wiedersehen bestenfalls die Waage hielten.
Aber, wie berichtet: Alles in allem war die Greisin nicht niedergeschlagen. Und das hatte, mochten Erinnerungen und Sommerbesuche auch dazu beitragen, vor allem folgenden Grund: Sonntag für Sonntag bewahrten sie ihre Enten vor dem Trübsinn. Es waren übrigens Stockenten, was sie allerdings, wäre es ihr gesagt worden, nicht interessiert hätte.
An diesem Ruhetag also, das müssen wir uns vor Augen halten, war ihr der Genuss der Fütterung versagt. Die Woche verstrich. Doch sie ging, wie fast immer, ohne Abwechslung vorüber. Und wären da nicht die Läden gewesen, durch die sie schlurfte, um unter Menschen zu sein und zuweilen ein freundliches Wort oder gar ein Lächeln zu ernten, wer weiß, wie lange sie der Ödnis ihres Daseins standgehalten hätte.
Jetzt aber war endlich wieder Sonntag. Sie machte sich mühsam, aber erwartungsfroh auf den Weg. Es war ihr angenehm, ein paar bekannte Gesichter in den Kirchenbänken zu sehen. Wenig später ging sie, den abgenutzten Beutel mit Brotstücken in der Umhängetasche, in den Park.
Dort freilich traf sie auf Unerwartetes. Ziemlich genau an der Stelle nämlich, von der aus sie die Brotbrocken zu werfen pflegte, ragte ein großes Metallschild aus dem Boden. Die Greisin beugte den ohnehin krummen Rücken vor und lächelte verdutzt über die ungewöhnlich, beinahe lustig dargestellten Teichbewohner: Fische, Molche, Schnecken, Frösche. Manche der Tiere schienen zu taumeln, und einige hatten übermäßig dicke Bäuche.
Nun muss gesagt werden, dass in der Ortschaft eine Gruppe engagierter, erfreulicherweise überwiegend junger Naturschützer arbeitete, die ihre Überzeugung mit Sachverstand und Kreativität in Aktionen umsetzte. Diese Freunde der Natur hatten die Tafel am Teich entworfen und fertigen lassen, die jetzt zwischen der alten Frau und dem trüben Wasser stand.
Sie hatte die ersten Krumen schon den herbeigeeilten Enten hingeworfen, als ihre schwachen, inzwischen neugierig gewordenen Augen die Sätze auf dem Schild zu entziffern begannen. Je mehr sie las, desto heftiger schüttelte sie den Kopf. Sie mochte den Worten einfach nicht glauben. Wütend verteilte sie das Brot.
Am Sonntag danach hörte sie, als sie gewohnheitsgemäß ihre Enten fütterte, wie Parkbesucher über sie schimpften, darunter auch solche, die sie vom Kirchenbesuch her kannte. Eine Woche später schließlich überraschte sie einer der jungen Naturkundigen. Er war gottlob kein hitziger Kopf, gleichwohl musste unsere Greisin unverrichteter Dinge umkehren, Tränen in den Augen.
Der Schutztruppe, das soll betont sein, ist gewiss kein Vorwurf zu machen. Mit wie viel Eifer hatten die Ehrenamtlichen die Kenntnisse über das Leben im Teich in Bild und Wort mitgeteilt! Hier wehte zweifellos ein frischer, bekennender, aktiver Geist, der jedermanns Respekt verdient.
Die Greisin indes ward nie mehr am Teich gesehen. Vielleicht hielt eine plötzliche Krankheit sie ab. Vielleicht hat sie den Sinn des Schildes eingesehen. Vielleicht ist sie fortgezogen und füttert nun andernorts ihre geliebten Enten. Vielleicht ist sie vor Gram gestorben.
Ich habe eine Vermutung.